Record of the Week

Beth Gibbons „Lives Outgrown”

Beth Gibbons
„Lives Outgrown”
(Domino/Goodtogo)

Kennt Ihr diese popmusikalischen impliziten Erweckungserlebnisse? Also Alben oder Musiker*innen, die durch die Hintertür leicht unvermutet und manchmal auch etwas zeitverzögert transformieren und dann für immer bleiben? Ich erinnere mich genau an einen fulminanten solchen Fall aus meinem Studium, den ich zum „Nice Price“ fast etwas verlegen kaufte: Das seinerzeit schon ein paar Jahre veröffentlichte „Spirit of Eden“ von Talk Talk (1988), die vorher eher nur eine unter vielen Chartsbands war, die für eine eher wenig überraschende Version von Synthie Pop und New Wave standen und niemals etwa an den großartigen John Foxx oder die frühen Human League herankamen. Doch dann waren da eben die späten Alben der Band und von deren Sänger Mark Hollis solo. Dieser eher immer wieder und dann endgültig verschwundene Brite ist leider 2019 verstorben, bevor der Regisseur Ollie Schwabe ihn wiederfinden und einen Film drehen konnte, so eine Tragik.

Paul Webb (Bass bei Talk Talk) hat als Rustin Man das phantastisch soulige Dunkel-Album „Out of Season“ mit Beth Gibbons anno 2002 aufgenommen. Nunmehr kooperiert Lee Harris (Drums bei Talk Talk), der sich mit ihr zusammen an eine Art Fort- oder eher Neuansetzung begeben hat. Dazwischen lagen Soundtracks, Gastauftritte und 2019 das sehr sperrig-komplizierte „Henryk Gorecki: Symphony No. 3 (Symphony of Sorrowful Songs)“, welches nur noch neugieriger machte.

Gibbons bleibt eine Herausforderung, tatsächlich nicht unähnlich Mark Hollis‘ Arbeiten und Abwesenheiten. Klagelieder scheinen mir prinzipiell alle Gibbons-Songs zu sein. Die ausdrücklich nur scheinbare und für Missverstehende eingängige Coffeetablehaftigkeit der frühen Portishead hatte sich schnell erledigt. Viel zu bekifft und düster war das schon damals. Nicht ostentativ beschattet, sondern tiefbohrend offenbarend semi-verzweifelt. Spätestens mit ihrem dritten Album „Third“ aus 2008 passten als Orientierung Krautrock und Industrial fast besser als der so genannte TripHop. Was viel mit Geoff Barrows und Adrian Utleys Vorlieben zu tun hatte.
Aber Genres oder Stile sind auch egal, Portishead hatten sich längt eine eigene Welt erschaffen und uns auch live gefühlvoll weggeblasen. Und wurden immer verwinkelter und spannender.

Die 1965 in Exeter geborene Gibbons wiederum möchte sich weiter von Breakbeats befreien und hat sich wieder Zeit gelassen – über zehn Jahre hat sie Songs gesammelt, sich mit Lee Harris und dem Produzenten James Ford (Arctic Monkeys, Depeche Mode u.a.) an dieses überwältigende neue Album gesetzt. Sie selbst gibt selten Interviews. Im Infosheet der Plattenfirma sagt sie, dass es im Leben prinzipiell keine Hoffnung gäbe, sie sich an die „lots of goodbyes“ nicht so wirklich gewöhnen könne und du nur im Einklang mit deinem Körper gegen eine große Traurigkeit ankommen könntest. Genau dieses hoch Emotionale und dennoch Kryptische strahlen ihre Songs, ihre Lyrics und vor allem ihre Stimme aus. Die unsteter geworden ist. Um Gibbons herum entspinnt sich wegen ihrer Rarheit ein Mythos der Unnahbaren. Gleichzeitig meint man beim Hören ihrer Songs direkt an ihrem Gesang zu sitzen und der Musik durch den eigenen Körper zu lauschen.

Jens Balzer titelte jüngst „Beth is back“ in der Zeit und beschrieb – auch ohne O-Töne von der medienabsenten Gibbons – ihr neues Album anhand diverser treffender Eindrücke als Höhepunkt ihrer Karriere: Aus der Zeit gefallen sowie paradoxerweise ebenso höchst gegenwärtig. In einem anderen Beitrag – „Es gibt keine Wahrheit im Pop – Es sei denn, man fälscht sie“ –  hatte Balzer im Zusammenhang mit der Frage nach dem produktiven Fake im Pop formuliert: „Auch die jahrzehntelang für selbstverständlich gehaltene Übereinkunft, dass es zwischen einer Kunstfigur auf einer Pop-Bühne und dem dazugehörigen realen Menschen einen konstitutiven Unterschied gibt, ist in erstaunlicher Geschwindigkeit revidiert worden: Das Publikum, das sich in der realen Welt nur noch von Fakes umgeben sieht, erwartet neuerdings gerade auf den Bühnen und Nebenbühnen des Pop Wahrhaftigkeit in einem Ausmaß, das den Pop notwendig überfordert.“

Bemerkenswerterweise gelingt es hingegen Gibbons, ihre Privatperson gänzlich aus ihrer Bühnen- und Studioperson auszublenden und doch zur selben Zeit enorm effektiv zu konstruieren, dass wir ihr das, was sie singt, abnehmen. „Tell Me Who You Are?“, wie sie es selbst betitelt. Wobei das angesichts der adäquaten Themen wie Sterblichkeit, Lebenswandel (im wahrsten Sinn des Wortes), Menopause und letztlich Weitermachen und Durchhaltevermögen nicht verwundert. Wie auf „Lost Changes“ oder „Burden of Life“ – nomen est omen. Siehe und höre auch den tollen, fließenden, hybriden und spooky Musikclip zur Single „Floating On A Moment“ des Regisseurs und Multimedia-Künstlers Tony Ousler, der auch schon Bowies ebenso suchendes „Where Are We Now“-Clips verantwortet hatte. Hier singt Gibbons von ‚ihrer‘ „restless curiosity“. Nicht das Schlechteste als Konstante in all diesem Irrsinn. In Jeans und Sweat Short sozusagen.

Für mich hat dieser seltsam-entrückt-entschleunigte, auffallend hölzern und verspielt perkussive Indie Soul Folk (Lee Harris inklusive Pappkarton, Gardinen, Wasserflaschen und Tupperware) etwas bescheiden Grandioses wie viele immer noch etwas übersehene behutsame orchestrale Songwriter*innen à la Laura Nyro, Mickey Greany, Stephen Duffy, Epic Soundtracks, Dave Kusworth oder auch Nick Drake. Beth Gibbons ist alles andere als unsichtbar. Und doch eine Art Geist. Mit mitreißender Wirkung. Das hier ist nicht retro, selbst wenn das als Lob gemeint wäre. Selbst wenn Filmmusik, Free Jazz, Hühnergegacker, Vogelgezwitscher und ganz große Balladen in „Beyond The Sun“ oder dem ausklingenden „Whispering Love“ das signalisieren könnten. Beth Gibbons ist vorläufig endgültig zeitlos geworden. Wie die größte Liebe des Lebens.

Wir dürfen sehr gespannt sein, wie Beth Gibbons ihre opulente Intimität auch live und in großen Arenen wie etwa beim einzigen Deutschland-Konzert in Berlin am 2.6. performt. Vorher tritt sie noch beim Primavera Sound in Barcelona auf.

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