Record of the Week

Steven Brown „El Hombre Invisible” 


Steven Brown
„El Hombre Invisible” 

(Crammed/Indigo)

Es ist noch kühl am Morgen. Die Sonne scheint. Für einen österlichen Moment verschwinden seltsame Erlebnisse und dunkle Ängste.

Bass- und Pianoläufe, Saxophon und Steven Browns einmalige, leicht nasale Stimme haben einen unverkennbaren Sound geprägt, schon auf dem für mich immer noch wichtigen ‚späten‘ Album „Holy Wars“ der mittleren und sehr art-rockigen Tuxedomoon-Phase, auf dem sich unter anderen das oft gecoverte und genutzte „In A Manner of Speaking“ befindet. 1985 war, als sie noch experimenteller, new/no waviger und weniger postpunkig oder Industrial-beeinflusst waren und sich Winston Tongs weicheres mit Browns rauchigerem Organ abwechselte. Damals, als fast nur noch bei ihnen ein Saxophon cool war.

„El Hombre Invisible“ nun zeigt mir nochmals die Bedeutung des verträumt-dunklen Tuxedomoon-Klassikers und ist Browns erstes Solo-Album seit circa 30 Jahren. Dazwischen hat er mit Tuxedomoon und zahlreichen anderen Projekten (unter anderen mit Blaine L. Reininger, Cinema Domingo Orchestra, Ensamble Kafka, Nine Rain) immer wieder Theater-, Modenschau, Tanztheater- und Filmmusik (bemerkenswert die klangliche Rahmung des 2016er-Dokumentation über David Lynchs „Blues Velvet“ von Peter Braatz und Einsätze für Wim Wenders) und 2000 die Sounds für den mexikanischen Expo-Pavillon in Hannover gemacht, sich immer wieder neu justiert und doch seinen hörbaren Weg gefunden. Browns Wahlheimat Mexiko wurde schnell zur echten Heimat, auch im klanglichen Sinn. Gleichwohl oder genau deswegen bleibt Brown ein multiperspektivischer Weltenwandler und Geschichtenerzähler. Mischt Geräusche mit Musik, Sprachen, Melodien, Traditionen und Anti-Traditionen, Medien und Instrumenten: große Besetzung, keine Band im engeren Sinn, eher ein Ensemble oder Kollektiv.

Letztlich steckt hier alles voller überraschender Ideen. Das Album knüpft an „Holy Wars“ an, scheint damit wohlgemeint zeitlos oder böswillig ein wenig stehen geblieben. Für mich ersteres. Browns seltsame im wahrsten Sinn des Wortes Art, Chanson, Artschool Postpunk, Weltmusiken, Vertonung, Experiment und orchestrale Dramatik zu komponieren, hat sich eine eigene Welt erschaffen. „El Hombre Invisible“ strotzt nur so vor Einfällen und Verlinkungen und leitet einen durch ein verworren-sympathisches Hörspielgehäuse, an der akustischen Hand von Brown. „I resist in my own small way. The choice is clear, I have no choice but to resist”, singt Brown in dem Stück „Resist” über Fakery und Truth. Und dann: „I’m in the opposition they call life”.

Wenn ein derart mit allen inszenatorischen und doppelbödigen Wässern gewaschener Musiker wie Brown über solche Themen singt, horche ich auf. (Nicht-)Masken und (Un-)Sichtbarkeiten überall. Verdammt schlechte Zeiten eben für das produktive und künstlerische Fake. Oder auch nicht. Und dann „Kill“: voller Sanftheit und Klarinette. Die Sonne scheint, der Himmel wird blau. Wir schaffen das. Wir schaffen das? Ich muss an Santa Cruz und die Pelikane denken: „Let’s make a zoo“. Ist es noch leichter Eskapismus oder schon verkrampfte Verdrängung?

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