Record of the Week

The Notwist „Vertigo Days”

The Notwist
„Vertigo Days”
(Morr Music/Indigo)

Hauntologisch-poppiges ‘Intro’ mit “Al Norte”, einem seltsamen, ent- oder vielleicht sogar verrückten Instrumental. Nach sieben Jahren machen es uns unser aller Indie-Lieblinge The Notwist nicht leicht – und das gefällt. Im Freundeskreis haben wir nach dem letzten hiesigen Notwist-Konzert ziemlich wild diskutiert, warum eigentlich niemand dieser Band je böse war. Also böse im guten Sinn: Stets wenig Kritik, selbst ein eher mittelmäßiges Konzert wurde sofort auf die eigene Position hin gedreht („Naja, ich kam spät und stand ja auch an der Seite, aber das letzte Mal, auf dem Theaterfestival der Ruhrtriennale, da waren sie phantastisch“).

Ist das schon Fan-Gerede? Oder doch noch Reflexion? The Notwist sind wie ein alter Freund. Immer da. Immer gut. Holpriges Kennenlernen für mich im AJZ Bielefeld als mich nicht besonders reizende deutsche Dinosaur Jr. Aber trotzdem Debüt-Platte gekauft. Und Jahre später ihre Alben und Console-Experimente geliebt. Und zu allen ihren Hits in der Indie Disco getanzt.

Jetzt und heute sind sie nach sieben Jahren wieder da. Sperriger. Krautiger. Geisterhafter. Nicht nur niedlich. Ein bisschen, als hätten die Gebrüder Markus und Micha Acher und Cico Beck mit ganz vielen Gästen oder besser Mitbewohner:innen all ihre Ideen und Seitenprojekte in einen langen Song gegossen. Markus Acher selbst spricht laut Info vom Hinterfragen des Bandkonzepts durch Addition neuer Sprachen, Sounds und Stimmen. Und beschreibt die wahrlich komplexen Lyrics als ein langes Gedicht. „Into Love/Stars“ (und final getreu eines Konzeptalbumgedankens „Into Love Again“) klingt, als wenn Carsten Nicolai und Ryuichi Sakamoto mit meinem ersten Casio Indie Pop anspielen. Dann diese einmalige „wird schon alles gut“-Stimme von Markus Acher, die weiterhin einfach tröstet. Auch wenn der Regen nach oben fällt. Schwierige Zeiten. Große Sorgen. Und ich entdecke neu: Die erfahrene Klarinettistin und Jazz-Komponistin Angel Bat Dawid („Into the Ice Age“), die tolle argentinische Singer-Songwriterin Juana Molina („El Sur“) ebenso wie die Japan-Indie Pop- und Brass-Band-Musikerin Saya der wunderbaren Tenniscoats (etwa auf der dubbig-hypnotischen Vorab-Single „The Ship“) stehen für diese behutsamen und dennoch klaren Öffnungen und Beeinflussungen.

Apropos: Lasst uns fließen – zu Quietschen, Kreischen, Übersteuerungen, Feedbacks, tiefer gepitchten Vocals. Der Journalist, Popmusikethnologe und Freund Thomas Burkhalter und sein Norient“-Netzwerk  haben mich gelehrt, dass Weltmusik im wahrsten Sinn des Wortes (vielleicht noch besser Weltenmusiken) gar nichts mit dem doofem Müsli-Genre im Plattenladen 1985 zu tun hat. Notwist studieren und verarbeiten diese Welten mit und durch künstlerische Freundinnen.
Dann wieder innehalten („My tracks are all in front of me“, singt Acher auf „Loose Ends“), während Menschen in meinem Umfeld eher die Spur zu verlassen drohen – doch diese Musik gibt Gewissheit: Wir schaffen das. The Notwist sind gleichzeitig sie selbst geblieben und transformiert; weise und kindisch zugleich. Für mich sind sie eine in Klänge verwandelte Utopie, eine, die wir dringend brauchen. “Vertigo Days” ist mitreißend. Kein kleiner Groß-Hit in Songform, sondern ein ganzes Album als Hit. Muss wohl nach 30 Jahren doch mal wieder ihr erstes Album anhören. Es liegt mehr an ihnen als an mir, glaube ich.

Mehr zu “Vertigo Days”: Philipp Kressmann hat die Band für kaput interviewt

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