Record of the week

Sufjan Stevens “Carrie & Lowell”

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Sufjan Stevens
„Carrie & Lowell“
(Asthamtic Kitten)
Bei der dieswöchigen Auslosung zur „record of the week“ traf ich persönlich auf ein ziemliches Geisterbahn-Roulette.
Dauernd drohte, über die neue von Modest Mouse schreiben zu müssen. All diese ehrgebietende Langeweile, oder wie es bei meinem festen Freund, dem Musikjournalisten Felix Scharlau heißt: „Das ist diesmal voll hymnisch!“. Ich sage es euch allen ungern – Moment, das ist unpräzise, und das wenige, was man in dieser Hilfswissenschaft Plattenkritiken noch haben sollte, ist Präzision – also, ich sage es euch sehr gern: Das ist Musik, die vorbei ist, das ist Nostalgie, das passt mir alles nicht, Modest Mouse sind Mist, ich irre mich nicht! Dennoch war ich nur mäßig erleichtert, dass der „Konsens“ (O-Ton Thomas Venker: „Jens und ich haben beschlossen, dass wir Sufjan Stevens machen“), dass dieser Konsens nun jenen Künstler nach vorne ins Kaput-Zentralkomitee spült. Viel zu oft sah ich Plattennerds mit glänzenden Äuglein dessen riesige Sammler-Boxen in die Luft halten. Und in meinem Ohr klingt Thomas Venkers Mantra „Artefakte!“
Ich hasse Artefakte. Klar, auch mir gefallen schöne Dinge. Doch wenn man sie besitzt, werden sie erst schmutzig und dann gehen sie kaputt – oder verloren. Oder man pflegt halt sein Eigentum, damit das nicht passiert. Ich hasse Leute, denen das gelingt. Vielleicht auch aus Neid, aber in jedem Fall zurecht. So, Sufjan Stevens‘ Beliebtheit ist mir überdies schleierhaft. Eine Mischung aus Versponnenheit, Sammlerpleasment, Indiekitsch, Größenwahn hat ihn über die Zeit nach vorn gebracht. Gern bezogen wird sich auf sein reines Behauptungsprojekt. für jeden Bundesstaat eine Platte zu schreiben. Obgleich das nach zwei Stück, glaub ich, eingestellt wurde, wird der Typ bis heute ehrfurchtsvoll für die reine Absicht hofiert – als hätte er es wirklich getan. Pffff! Sei’s drum, beschreibe ich mal seinen Fans dieses neue Meisterwerk: Also, das ist Musik, die dir dein Leben stiehlt. Geht es um seine Eltern mit Carrie und Lowell? Vermutlich. Würde ja passen zu dieser simulierten Tiefe und Wärme. Geschmackvoll fließen sie dahin die Songs, gehaucht, gestreichelt, sanft. Der Schmerz, den man bei Scott Matthew oder den Magnetic Fields noch spürt, ist hier durch Handwerk ersetzt. Bei „Eugene“ fällt dann auch das Wort „Lemon Tree“ und es einem selbst wie Schuppen von den Augen: Fool’s Garden gejagt durch einen Bright-Eyes-Simulator. Das passt. Viel Spaß all jenen, denen das gefällt, dieser kleinbürgerliche Schrott, dieses ins Nichts leitende eitle Sentiment, diese verzuckerte Konterrevolution. Ihr seid Trottel!
Linus Volkmann

Wenn jemand das erste Stück seines Albums “Death with dignity” nennt, muss man normalerweise nicht viel Kombinationstalent besitzen, um zu ahnen, dass er gerade eine schwere Zeit durchmacht oder durchgemacht hat. Es sei denn, bei dem Er handelt es sich um den Meister der opulent angelegten Konzeptalben, Sufjan Stevens.
Bislang habe ich Sufjan Stevens hauptsächlich über die Lippen von Felix Scharlau wahrgenommen, des Textchefs meines Herzens, den wir hier bei Kaput so schmerzlich vermissen, und der Stevens  2010 in New York Zuhause für ein mehrstündiges Gespräch besuchen durfte. Stevens hatte es gerade mit seiner Veröffentlichungsserie zu den US-Bundesstaaten, von New York, wo er noch heute in Brooklyn lebt, bis Illinois, in das Zentrum der amerikanischen Indie-Community geschafft. Und wie es sich für ein ambitioniertes Everybody’s Darling gehört, regte das nur seine Experimentierfreude an, was zu einem sehr texturlastigen Album und Film über den The BQE, der Expressway, der Brooklyn und Queens verbindet, führte oder eben auch zu einer zeitweisen Hinwendung zu elektronischer Musik, wie sie “Age of Adz” repräsentierte, das Album, über das in dem Interview gesprochen wird.
Mittlerweile ist Sufjan Stevens wieder in klassischeren Songwritergefilden angekommen. Noch immer aber gilt, dass er sich für ein Album immer ein Überthema sucht – diesmal jedoch nicht, um sich von seinem normalen Leben abzugrenzen, sondern um sich mitten hineinzustürzen in die Aufarbeitung des Todes seiner Mutter und seines Stiefvaters. Die “sado-masochistische Art”, mit der er sich nach eigener Aussage Musik nähert, bedarf des Wahnsinns eines solchen ihn fordernden Überbaus. “Das Auseinandernehmen, Zerlegen von Themen, das Entmystifizieren, das gefällt mir. Deswegen ist ein konstantes Merkmal meiner Arbeit immer das Beobachten, Provozieren, Studieren, Nachforschen und so weiter.”
Auf “Carrie & Lowell” zieht man mit einem schwächelnden Protagonisten herum, einem, der eine Ahnung davon hat, wo er gerne wäre, der aber weder Energie noch Vorstellungskraft besitzt, den Weg dahin zu gehen. Zuviel Gepäck liegt auf seinen Schultern. Es werden auf “Carrie & Lowell” viele Augen geschlossen, viele Träume ausgefadet und Kapitel beendet.
Diesen Handlungsstrang präsentiert uns Stevens zu wunderschön komponierten Songs, warm, verspielt und voller kleiner Details, an denen man sich von Hördurchgang zu Hördurchgang wie auf einer Liane schwingt. Es herrscht eine stete Traurigkeit, aber trotzdem ist die Stimmung nicht negativ. Es ist eher so wie an einem Samstagnachmittag im Kinderzimmer, wenn die Eltern draußen mal wieder streiten und man die Tage zählt, bis man endlich ausziehen darf und mit dem Mädchen der Sehnsucht über alle Grenzen entflieht. Es existiert eine vage Form von Hoffnung innerhalb der übermächtig erscheinenden Tristesse, nicht unähnlich den Welten von Anthony and the Johnsons und Benjamin Gibbard (Deathcab for Cutie). Das ist zum daran klammern gar nicht mal so wenig.
Wie das zum Abschied von der Mutter und dem Stiefvater passt? Nun, zwei Dekaden später sehen die Dinge eben oft ganz anders aus.
Thomas Venker

Unser Schicksal liegt im Dunklen. Nein, die Rede ist nicht von der Zukunft, sondern von den Dingen, die wir schon längst hinter uns haben. Umso weiter wir zurück gehen, umso eher müssen wir uns auf vages Gefühl verlassen, denn auf greifbare Fakten. Vor allem dann, wenn wir diejenigen, mit denen wir Erinnerungen teilen, nicht mehr danach fragen können. Weil sie beispielsweise tot sind. Mit diesem Aspekt des Todes hat „Carrie & Lowell“ ein ganze Menge zu tun. Große Themen liegen Sufjan Stevens schon seit je her: große Bundesstaaten, große Fragen des Glaubens, große Heldentaten, große Serienmörder. Natürlich ist er nicht größenwahnsinnig, sondern besitzt vielmehr die Gabe solche Gebiete zugänglich zu machen, indem er sie durch seine Person filtert. Das Ergebnis ist so gut wie immer berührend, darin liegt sein großes Können. Wie sich auf diesem Album herausstellt, muss Stevens auch in seiner Biografie nicht nach großen Themen suchen. Seine Mutter verließ die Familie als er ein Kleinkind war, litt zeitlebens unter psychischen Problemen die sie mitunter in die Obdachlosigkeit führten. Der Kontakt zu ihr beschränkte sich für Stevens auf ein paar Ferienaufenthalte und wenige Treffen. 2012 starb sie. Das Problem um jemanden zu trauern, den man kaum kannte, der aber quasi naturgesetzlich eine bedeutende Person in seinem Leben darstellt, schwingt in vielen der Songs ebenso mit, wie die Sehnsucht signifikante Momente der Zweisamkeit aus dem Gedächtnis zurückzuholen. Wie schwierig das sein muss, deutet schon das verblasste Foto auf dem Cover an. Stevens löst es, indem er Erinnerungsfetzen, so verschwommen sie auch sein mögen, durch den oben erwähnten Filter seiner Musik wieder an Klarheit gewinnen lässt. Das ergreifende an „Carrie & Lowell“ ist dabei, dass Stevens Texte zu seinen gleichzeitig klar und sphärisch instrumentierten Songs so unreflektiert scheinen, als entstammten sie direkt einem inneren Zwiegespräch. Man hat es hier also nicht mit dem Ergebnis einer Auseinandersetzung mit dem Tod oder der eigenen Geschichte zu tun, sondern mit einem Zustand in den das Schicksal einen versetzt. Die Kunst ist, dass man ihn nachvollziehen möchte.
Martin Riemann

Was? Sufjan Stevens’ letzte Platte ist schon wieder 5 Jahre her? Schwer zu glauben; nicht allein, weil einschneidende Eindrücke nur langsam verblassen, sondern auch, weil Stevens’ Lieder in ihrer großen Familienähnlichkeit und unangestrengten Anmut klingen wie die Lieder eines Vielschreibers. Sie wirken so leicht und frei und nebenbei entstanden wie die Songs von Stephin Merritt und Conor Oberst. Und wie bei ihnen scheinen die Platten rein zufällige Portionen eines einzigen endlosen Gesangs abzupacken, die Grenzen zwischen ihnen so künstlich gezogen wie die zwischen den Bundesstaaten, die sie besingen. An dem Eindruck ändern auch die sehr verschiedenen, aber dennoch nie groß typverändernden produktionsästhetischen Gewänder nichts. Für „Carrie & Lowell“ wurde der Lendenschurz gewählt. Es gibt kein fettes Orchester diesmal und keine futuristischen Experimente. Nur die wirklich allernötigsten Töne – einer Gitarre, eines Klaviers, eines sparsam dosierten gemischten Chors – begleiten den eindringlichen, traurigen, aber niemals heulsusenhaften (man könnte vielleicht sagen: gefassten) Ernst der Stimme. Lowell und Carrie sind die Namen von Stevens’ kürzlich verstorbenen Mutter und seinem Stiefvater. Die Texte umkreisen dazu im Einklang die Motive Kindheit, Endlichkeit, Verlust, und sie tun das in einem wunder- und kunstvollen Hin und Her der Tonfälle; etwa wenn in „Fourth of July“ zärtlich verklärende Ansprache und Protokollstil verstörend mischen: „The hospital asked should the body be cast / Before I say goodbye, my star in the sky / Such a funny thought to wrap you up in cloth / Do you find it all right, my dragonfly?“ Das Ganze passiert zu einer Melodie, die klingt wie ein müdes, verwehendes Kinderlied. Selten wird man so lässig so reich beschenkt wie mit einem solchen Stück – wie mit einem solchen Album.
Jens Friebe

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