Records of the Week Monster-Review-Spezial

Verarbeitungen mit Slowdive, Spirit Fest, Sigur Rós & Pale Blue Eyes

Slowdive
„Everything is Alive”
Dead Oceans/Cargo

Schuheglotzen deluxe – teilweise mit Uptempo und großen Gefühlen,dafür hat die berühmte Regisseurin Sofia Coppola stets einen Sinn gehabt. Promis werden dann interessant, wenn mir etwa ein fußballgewandter Freund erzählt, dass der spanische Spieler und Trainer Xabi Alonso daheim unter anderem Galaxie 500 hören soll. Weniger überraschend, da näher am eigentlichen Hauptberuf sind bei Sofia Coppola Dream Pop, Shoegaze und Neo Psychedelia; zur nie zu späten Einführung immer noch bitte die umfassende und schillernde „Still Have a Dream“-Compilation-Box hören und studieren. Immer wieder hat Coppola in ihren Filmen tolle Musik dieser Art (wieder-)entdecken geholfen, wenn etwa The Jesus & Mary Chain ihr epochales „Just Like Honey“ am Ende von „Lost in Translation“ anstimmen oder im Trailer zum neuen Elvis-Film „Priscilla“ bereits Sonic Booms Spectrum „How You Satisfy Me“ spielen.

Ich lief dieser Tage sofort zum analogen und digitalen Regal: Oh je, 1992 war das – und doch irgendwie zeitlos, wie ich Pete Kember aka Sonic Boom vor ein paar Jahren auf dem „Madeiradig“-Festival endlich persönlich sagen konnte. Bei dieser Art Musik geht es um Überwältigung, Schichtung und Anti-Haltung-Haltung und nicht so sehr um Instrumente oder Genres. Deswegen wundert es auch nicht, dass von Nikki Sudden über Flaming Lips bis Alvvays alles Mögliche durch die Dekaden einsortiert werden kann. Und Pale Blues Eyes etwa schon Slowdive auf Tour supportet haben, letztere für mich bis zu ihrem fulminanten Comeback vor sechs Jahren beiläufiger als andere waren wie zum Beispiel ihr eigener Fortsatz Mojave 3 und vor allem die frühen Sigur Rós oder Tenniscoats, die wiederum Teil von Spirit Fest sind.

Schieben wir das ganze Referenzgestrüpp mal zur Seite, hören wir auf Slowdives zweitem Album nach dem Neustart wieder schlichtweg Ergreifendes – siehe auch Lennart Brauwers schönes Review bei Kaput. Ebenso wie übrigens bei allen vier hier zusammenfassend beurteilten Alben, geht es um viel Persönliches, um Verarbeitungen von Pandemie, Schicksalsschlägen in Familien und Freundeskreisen und oftmals frustrierende Weltzustände: Und dann, unverhofft und von Slowdive kongenial in Sound, Lyrics und im wahrsten Sinn Stimmungen umgesetzt, wie beispielsweise auf „Kisses“, bricht Licht durch die Wolkendecke. Oder du erkennst die Schönheit von Wolken, auch wenn sie mal dunkel und wild erscheinen wie auf „The Slab“. Alles lebt. Ich kann es sehen und fühlen und denken. Höre dazu Slowdive, und du wirst emotional. Wellen- und manchmal in der Tat rauschhafte Besinnung.

Spirit Fest
„Bear in Town”
(Morr Music/Indigo)

Spirit Fest bestehen, wie schon erwähnt, aus Mitgliedern der seit „Baibaba Bimba“ unvergessenen Tenniscoats: Saya und Takashi Ueno, von The Notwist (Markus Acher) und Cico Beck von Joasinho und Aloa Input. Spirit Fest erscheinen mir mehr als Kollektiv denn als Rock’n’Roll-Band, waren wegweisend für strahlend-verhuschte Indietronics und haben mich mit ihrem vor einem Jahr wiederveröffentlichten Album „Tan Tan Therapy“ nochmal wieder richtig neugierig gemacht. Nunmehr gibt es ein neues Album mit sechs langen Songtracks oder Tracksongs, unter denen sich Überarbeitungen ursprünglich anders geplanter Ideen finden. „Lost & Found“ flüstert sich folkloristisch-zerbrechlich durch seine Minuten und gewinnt genau dadurch seine zurückhaltende, verhallte Stärke, die sehr klar und positiv an die eingangs erwähnten Galaxie 500 erinnert. „In Our House“ mit Achers einmaliger Stimme verweist schon in meinen Kognitionen auf „This House“ von den Pale Blue Eyes, Häuser im Sinne von ‚Zu-Häuser‘. Dort, wo es heimlich, aber manchmal auch unheimlich ist. Puh.

Sigur Rós
„ÁTTA”
(BMG)

Die Isländer von Sigur Rós haben mir just schon ein drittes Überwältigungsmoment beschert: Das von Johan Renck (Regisseur der fulminanten Mini-Serie „Chernobyl“) im Musikclip visualisierte „Blóðberg“ vom neuen Album hat mich in seiner absoluten Trostlosigkeit getröstet. Wie wird es ohne uns weitergehen, also so richtig ohne uns alle? Sänger und Gitarrist Jónsi variiert wieder zwischen Flüstern, Wimmern und majestätisch-hymnischem Gesang. Kaum eine andere Band darf derartig unpeinlich pathetisch absingen. Sigur Rós sind so weit draußen und doch mitten drinnen, „ÁTTA“ ist für mich der Soundtrack zur letzten Generation und voller Verzweiflung und Standhaftigkeit. Das lese ich herein, freilich. Ach ja, Überwältigungserlebnis 1: Das zweite Album „Ágætis byrjun“, meiner damaligen Freundin sei Dank. Ende der 1990er, als wir ‚9-1-1‘ nur als US-amerikanische Notrufnummer oder Porsche-Modell kannten. Live in der alten „Maria am Ostbahnhof“, kurz vorm Weinen und voller Erstaunen, dass das ja ein – gefühlvoller als einst R.E.M. – phantasiesprechender Sänger ist. Mit der Erkenntnis, dass das Geschlecht eigentlich völlig irrelevant ist. Überwältigungserlebnis 2: Vor über zehn Jahren die weltweite Video-Premiere zum Album „Valtari“ auf dem Musik- und Filmfestival „Madeiradig“ beim Drink auf dem Dach des alten Dorfkinos von Ponta do Sol: „Varúð“, an das das neue „Fall“ erinnert, mir kamen am Atlantik die Tränen, Rührung durch und durch, ich schaute verschämt über das Dorf zur Seite. Während ich das hier schreibe und vom heranschleichenden „Glóð“ über das glänzende, Bersarin-Quartett-hafte „Gold“ bis zu den finalen, ambienten, beinahe Eno-esken Ausklängen des fast zehnminütigen „8“ eine absolute Gänsehaut bekomme. Das geht nicht nur mir so, schau mal ins Netz. Auf Wiedersehen, Meta-Ebene, hier kommt die Wirklichkeit, in der Sigur Rós und ich fast eins werden.

Pale Blue Eyes
„This House”
(Full Time Hobby/PIAS/Rough Trade)

„Globe“ vom Debüt „Souvenirs“ der britischen, nach dem berühmten Velvet-Underground-Song – Muttervater aller coolen Schuheglotzenden oder Traumpopper*innen – benannten Pale Blue Eyes hat mich auf eine flottere, im Tempo schnellere Art und Weise aufgesogen. Da brauchte ich gar nicht die vielen Vergleiche zu vorrangig britischen New Wave, Post Punk oder sogar leicht Gothic-orientierten Bands. Das Lied war schon frech nah an „Just Like Heaven“ von The Cure oder – noch viel besser – der legendären Coverversion von Dinosaur Jr. Ab geht’s auf den Tanzboden. „This House“ beginnt krautiger. Wobei ja klar war, dass eben viele Bands der genannten Szenen – Robert Smiths Band, Joy Division/New Order, The Chameleons oder die Swell Maps – große Fans vor allem von Neu!, Faust und Can waren/sind. Pale Blue Eyes haben aber noch viel mehr Lush, Stereolab und Telescopes in ihrem musikalischen Blut, also die Zwischengeneration, hört mal bitte „Hang Out“ oder „More“. Und bei „Spaces“ sind wir schon direkt wieder am Anfang und bei Slowdive. Die nächste Generation um Dayaway, Melenas, Lorelle Meets The Obsolete, Alvvays oder die Pale Blue Eyes macht mir richtig Spaß, gerade wenn es, wie etwa auf „Takes Me Over“, laut Matt Board (Gesang, Gitarre) um Krisenüberwindung und schon fast in Richtung gitarrenlastigen Synthie Pops geht oder stampfend-kriechender Distortion („Underwater“).

Fazit: Alle diese Alben leben nicht nur von akustischer und imaginativ verstärkter Überwältigung und Schichtung, sondern stechen ganz besonders heraus aus so viel Langweiligem und Mittelmaß, auf allen Ebenen und so auch charakteristisch im Visuellen unglaublich passend und hübsch gestaltet, die Alben-Cover erzählen bereits große und komplexe Geschichten, erst Recht in Kombination mit der Musik, so war das doch auch mal gedacht in ‚gutem‘ Pop – auch das gehört zu Dream Pop, Shoegaze und Neo Psychedelia.

Ich wette, Sofia Coppola hat von allen genannten Acts Musik oder sogar analoge Alben bei sich zu Hause und voll und ganz im Herzen. Ich jedenfalls habe das. Genau in diesem Moment weht meine große Liebe lächelnd durch den sanierten Mietwohnungsflur. Das Leben ist gut, die Welt ist das, zu dem wir sie machen. Ich bekomme wässrige Augen. Katharsis.

 

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