Record of the Week

Zeitlos elegant: Blonde Redhead

Blonde Redhead
„Sit down for dinner“
(section1)

„23“, Blonde Redheads zweite Platte auf 4AD, hatte mich 2007 stark angefasst. Die Platte gilt als Eintritt der Band in die so genannte Dreampop-Phase. Das war mir egal. Nicht egal war mir, dass mich bereits die vier ersten Akkorde des gleichnamigen Titeltracks massiv in einen Sog der Begeisterung hineinzogen. 23 ist heute noch ein Stück, dessen Energie bei mit direkt etwas Starkes auslöst: Kopfnicken, Faust ballen, mitsingen, Gitarrensaite direkt vor dem Refrain imaginär mit anschlagen und so weiter.

Damals hörte ich sehr wenig Musik, ich hatte praktisch das Interesse daran für lange Zeit verloren. Nach dieser Platte war ich wieder drauf. Ich kannte die Band zuvor tatsächlich nicht, gab dann aber sogleich meinem archivarischen Impuls nach und hörte mehr davon. Die frühen Sachen waren mehr Dischord-lastig, was durch die Freundschaft und Kollaboration mit Guy Picciotto ja auch personell untermauert war. Kazu Makino nannte eine Unwound-Platte als eine ihrer Lieblingsplatten, auch In diesem Terrain fühlte ich mich schnell wohl, das kannte ich.

Interessanter fand ich aber irgendwie die späteren Sachen, so ab „Misery is a butterfly“, kurz vor der erwähnten Dreampop-Phase. Mir gefiel auch „Penny Sparkle“ gut, die Platte nach „23“, die allgemein als schwächer gilt. Dort war der Ansatz von Blonde Redhead, Gitarre und Elektronik zu mischen, bisher am meisten ausgeprägt – ich finde solche Konzepte selten so gelungen wie bei diesem multikulturellen Trio. So muss ein moderner Ansatz an Popmusik eigentlich aussehen, dachte ich. Amedeo Pace ist auf Effektgeräten-Hersteller-Videos mit seinem Pedalboard zu sehen. Man weiß nie: Ist das noch Gitarre oder schon Synthesizer? Ich finde sowas zumindest progressiv …
Die Band wirkt nie lasch, auch wenn sie träumt. Sie hat die New Yorker Eleganz der Zugereisten gepachtet – Kazu Makino singt mit japanischem und Amedeo Pace mit – na ja – irgendwie italienischem Akzent. Das macht alles immer gleich so unrockig unamerikanisch, so wie eine arthouse-Version von Rock and Roll. Man fühlt sich beim Hören von Blonde Redhead immer gleich kultiviert, kosmopolitisch, divers – sagen wir mal so.

Blonde Redhead wiederholen sich nie, klingen trotzdem immer wie Blonde Redhead. Sie besitzen eine magische Essenz, die sie jederzeit bzw. bei jeder Platte abrufen können. So wie die Ramones, die von Punkrock-Produktion bis zu Phil Spector Wall-of-Sound-Ansatz immer wie die Ramones klingen. Bei BR kommt auch immer das gleiche Gefühl rüber, ob es noisiger zugeht wie früher, oder wie zur Penny Sparkle Zeit, als auch mal David Sylvian sang.

„Sit down for dinner“ ist die erste Platte seit 2014. Sie ist Corona-geprägt; die Songs sind teilweise schon von 2018. Ob die Platte eine Signature-Platte wird wie die drei von Pitchfork als solche bezeichneten „Melody of Certain Damaged Lemons (Touch & Go) und die bereits erwähnten „Misery is a butterfly“ und „23“ (4AD), muss man sehen. Sie geht auf jeden Fall mal wieder in eine neue Richtung. Und alle Signature-Bestandteile sind da: die Eleganz, die Nachdenklichkeit, die rhythmische Vielfalt , die Lust an überirdischen Sounds, die intelligenten Gitarrenläufe. Irgendwo las ich, dass Kazu Makino meinte, dass normalerweise das Aufnehmen einer Platte ein großer Kampf für die Band wäre – und sie dieses Mal allen eine entspannte Experience versprochen hätte. Das spürt man, finde ich. Die Platte wirkt leicht, bei BR selbstverständlich leicht melancholisch.
Blonde Redhead rasten nie aus, bleiben auch unter höchster Emotionalität immer sophisticated. So ungefähr das Gegenteil wie Menschen Gewalt antun zu wollen, das Gegenteil von Aggression oder Unreflektiertheit. Insofern vielleicht ein ziemlich gutes Statement zur Zeit. So wird man vermutlich, wenn man viel Joan Didion liest (ich habe erst ein Buch von Joan Didion gelesen und das wirkte sehr kultiviert …). Wobei: Was soll das Explicit-Zeichen bei „Sit down for dinner, Part One? Ah ja, alles gut: An einer Stelle singt Kazu Makino „Bitch“ … hatte mir schon Sorgen gemacht.

Bei „Melody Experiment“ (der Name!) ist alles in Perfektion da: Feenhafter Gesang, Gitarrenlauf mit Hall und Chorus galore, Synthesizer-Fill ins, die sich nie aufdrängen. Neu sind die immer wieder aufpoppenden folkigen Klänge, die von der Westerngitarre kommen – wie bei „Rest of her Life“. Eine neue Klangfarbe, die noch mehr Ruhe erzeugt. Ein Song vielleicht durch das Corona-bedingte Herumsitzen am Küchentisch aka Lagerfeuer entstanden? Mit „I thought you should know“ fordert die Band sich mal andersherum heraus: Mit einer Ballade, die in der Strophe mit zwei Akkorden auskommt – extrem minimalistisch und hymnenhaft für Blonde Redhead. So eine Art städtische Version von Neil Young. Die Byrds auf dem Weg ins MoMa. Würde man sich ihr Publikum nicht auch immer gleich als unanfällig für Kopflosigkeiten vorstellen, käme man auf die Idee, dass man hier möglicherweise das Feuerzeug zücken könnte. Nee, wird nicht passieren. Das Outro „Via Savona“ (in der italienischen Heimat von Amedeo und Simone Pace wurde wohl auch geschrieben …) ist eine unglaublich schöne Ballade – erinnert mich an eine Mischung aus Blade Runner-Vangelis, Harold Butt und Francis Lai oder so. Und trotzdem typisch BR – mit Kazu Makinos Stimme, die nur Ahs und Ohs braucht, um den Traum zusammenzuhalten.

Bei den letzten Platten von Blonde Redhead – und auch hier – dachte ich so leise vor mich hin, wie es wohl wäre, wenn man dieser Band mal einen Mega-Produzenten zur Seite stellen würde. Ob sie dann so richtig „huge“ werden würden. Keine Ahnung, so einen wie Rick Rubin. Der die Essenz erkennt und sie stärker herausschält. Oder Dan Auerbach? Danger Mouse oder Kevin Parker? Ich glaube, man könnte dann eventuell noch was rauskitzeln aus einer Platte wie dieser. An manchen Stellen das dezente Drumming von Simone Pace etwas anziehen, den Bassanteil erhöhen und … dann … ach Quatsch. Wahrscheinlich gehört es zur Marke Marke Blonde Redhead, so leise und so – im positiven Wortsinn – bescheiden zu klingen. Laute Bands, die die Zeit nicht überdauern, gibt’s genug. Und nicht vergessen: Setzt euch zum Essen bitte immer zusammen an den Tisch. Ich predige es ständig Frau und Töchtern – leider oft vergeblich. Wichtig ist es trotzdem …

Markus Koch

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