Geschichten aus der Nachbarschaft

Wu-Tang- and Corona-Angst … ain‘t nuthin‘ to fuck wit 

Boah, reicht jetzt echt, die Scheiße! Ich mag nicht mehr raus, die Leute sind alle balla balla. Hierzu zwei Beispiele, die es untermauern.
Ein kleiner, allerdings nicht unstressiger Ausflug durch den Kiez von Thorben Kaiser.

01 Der Pizzaboy (ca. 20)  als HipHop-Polizist.
Er fragt mich (38), ob ich einen Wu-Tang-Pullover trage. Offensichtlich ist das so, denn das Logo ist unverkennbar und es steht fett „Wu-Tang“ mittig drauf, wer kennt es nicht? Ich hab gerade die Pizza entgegen genommen, bin schon weg, fast, da hör ich noch mal ein leises aber eindringliches „Wu-Tang Pullover?“ Ich schaue mich um, ich schaue ihn an. Er hat so leise gesprochen, als dürfe ihn sein Chef am Steinofen auf keinen Fall dabei hören, wie er Kunden danach fragt, ob sie auch wirklich das tragen, was sie tragen. Ich, noch unsicher, woher die Frage kam: „Hm, ja… schlimm?“ Er schaut mich an als wollte er mich hypnotisieren oder gleich mit Kung Fu, passend zum Thema, anfangen. Er sagt fast zähneknirschend: „Kommt drauf an. Wenn Du weißt, was das ist, nicht!“ Ich bin irritiert und geschockt, weiß nicht, was ich kontern soll. So oft wünsche ich mir mehr Schlagfertigkeit, in diesem Augenblick ist da aber nur Leere. Sehe ich nicht kredibil aus? Sehe ich aus wie der Mann auf dem Fatoni Cover, der vermutlich im Kleidercontainer sein Wu-Tang Shirt fand? Was will er, dieser Komische? Ich schiebe mein Kind, das auf der Mittelstange des Fahrrads sitzt, weiter und sage: „Ja, äh, ich weiß, wer das ist!“ Korrekter wäre gewesen: „Ich weiß, wer die sind!“ und „Und übrigens, ich kenne die Texte der ersten Soloalben von 94-95 auswendig und weiß, wie viele Kinder ODB hatte und kenn den Clan schon länger als Dein Vater Deine Mutter.“ Das ist mir aber jetzt erst eingefallen. Vielleicht gehe ich morgen noch einmal hin. Dann frag ich ihn irgendwas, was nur echte Wu-Tang Heads wissen können. Echten Undergrundshit.

02 Nächster Beweis, dass es den Menschen gerade echt nicht gut geht.
Kleinster Kleiner Supermarkt der westlichen Berlinwelt hier in meinem Kiez. Der, bei dem ich Klopapier für 5 Euro gekauft hatte und der, dessen Eigentümer zu mir meinte, ich solle doch einfach noch ein Kind zeugen, nachdem ich ihm berichtete, dass meine älteste Tochter gestorben war. Heute nun meckert mich dort die bescheuerteste alte Frau der Welt an. Wenn jemand auf die 1,50m-Abstandregel besteht, geht er ja wohl nicht in einen Eck-Markt, der selbst gerade mal gefühlte 2qm groß ist. Diese Frau aber schon und dann wartet sie auf den nächstbesten Dummen, mich, um mich anzuschnauzen. Ich gehe mit meiner Tochter ganz locker rein, da bläst mir ein „Abstand halten!“ entgegen. Ja, sie meint mich und schaut mich über ihre Lesebrille an, kurz von der Lektüre der Inhaltsstoffe eines Frischkäses ablassend. Ich bin ihr keineswegs nahe gekommen, kenne die Regeln, achte auch so gut es geht darauf, aber hier kann sie es nicht ernst meinen. Mir bleibt, über eine Eistruhe zu springen, wozu ich nur in der Fantasie in der Lage bin oder da jetzt echt zu stehen, bis sie den Text der Verpackung auswendig gelernt hat. Ich: „Sollen wir jetzt hier stehen bleiben, bis sie die Inhaltsstoffe auswendig können?“ Sie: „Das ist mir egal.“ In dem Moment geht eine Frau zwischen uns hindurch. Für die Meckerdame kein Grund, etwas zu sagen. Ich: „Oh, haben Sie das gesehen? Die geht hier einfach so nah an Ihnen vorbei!“ Sie: „Die war zu schnell, sonst hätte ich etwas gesagt!“ Ich: „Ich gehe jetzt hier lang.“ Ich geh selbst nicht gern eng an Menschen vorbei, also dreh ich auch meinen Kopf weg, als ich den ersten Schritt mache. Da läuft sie ernsthaft vor mir weg. Hinter mir kommen ca. 5 weitere Menschen, die sich aufstauten, hinterher. Die Frau ging ihnen sogar entgegen, hat nichts zu ihnen gesagt. Ich drehe mich noch einmal zu ihr, weil ich richtig sauer werde, da sie nur mich anpampte: „Was ist denn jetzt los? Ermahnen Sie die anderen Menschen gar nicht? Schon komisch.“ Da geht sie zu ner Angestellteb ubd beschwert sich über einen unhöflichen Kunden. Ey, kann alles nicht wahr sein. Ich verstehe, dass die Frau Angst hatte, aber wer in so einen kleinen Markt geht, obwohl in der Nähe auch größere Märkte mit strammeren Regeln sind, dann wirklich erwartet, dass andere Menschen ihr da zuschauen, bis sie mit Kalorien zählen fertig ist, gehört angehustet. Sie hat sich aber auch den richtigen Typen ausgesucht. Einen, der sich Stunden später noch ärgert, obwohl er die Begegnung mit dem Pizzajüngling vom Vortag noch nicht verdaut hat.

Es sind sensible Zeiten. Alle schützen das, was ihnen geblieben ist. Der Wu-Tang-Soldat seinen Exklusivitätsanspruch und die Oma ihren ganz eigenen Wahnsinn, den ich nicht weiter deuten kann. Bei mir wäre es das sichere Umfeld, meine paar Meter Kiez, auf denen ich nicht damit rechnen möchte, angepampt und abgelehnt zu werden. Das ist vermutlich ein letztes Stück Stabilität, Routine, neben der Arbeit,… Spazieren gehen, einkaufen, achtsam, aber nicht neurotisch aggressiv werden. Nicht durchdrehen. Einfach nicht durchdrehen. Immer schön Tagebuch führen. Essen und trinken, schlafen und Tagebuch führen. Arbeiten und Kind schoolen und Tagebuch führen. Um nicht durchzudrehen…

Text: Thorben Kaiser

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