Eine Art von „Familienschlaf“

Wie wenig ich weiß – für immer im Kinderzimmer

 

Wann immer ich mit Freund:innen über ihre und meine Jugend spreche, habe ich das Gefühl, dass alle anderen mehr erinnern als ich. Seien es Kindergartenereignisse, Schulanekdoten oder auch erste Teenage Dreams.
Lange erklärte ich es mir so, dass sie die Gedächtnisfäden einfach freier interpretierten. Wenn ich weniger gut drauf war, grübelte ich auch mal über verfrüht bei mir einsetzende Demenz. Erst seit einiger Zeit, verfestigt sich eine Theorie der Kollateralschäden bei mir, dass also viele Erinnerungen mit prägenden unschönen Erlebnissen, die ich eigentlich haben müsste, von mir unintendiert verbuddelt wurden.

Es war Gertrude Stein, die davon sprach, dass Geschichte Zeit braucht, um zu entstehen, und dass es letztlich erst die Geschichtsschreibung sei, die Erinnerungen erschafft. (Originalzitat: „History takes time. History makes memory.“; zitiert nach einem Kühlschrankmagnet).

Was aber, wenn das Kontinuum der Geschichtsschreibung keinen Zugang zu allen Ereignissen und die sozialen Wolken um diese herum zur Verfügung gestellt bekommt, noch nicht einmal manipulativ, sondern aus individuellen Gründen des aktiven Selbstschutz oder auch des passiven Ausblendens.

Ich muss an das Stück „Wie wenig du weißt“ von Trinkwasser denken, dem gemeinsamen Projekt von Jörg Burger und Lothar Hempel, jetzt wo ich mich endlich an diesen Text setze, den ich nun schon ein paar Tagen mit mir herumtrage. Eine kleine Ode an The Smiths und deren Song „Death of a Disco Dancer“ – und heute, einen Tag nach dem Tod von Andy Rourke natürlich neben Fragmenten der Erinnerungen an endlose The-Smiths-Listening-Nachmittage-und-Nächte während meiner Teenagertage auch eng mit dem Tod des Smith Bassisten verbunden.

Aber zurück zum Erinnern – oder besser zum Nicht Erinnern.

Ich habe die vergangenen Tage in Stuttgart verbracht. Meine Schwester, die sich den Großteils des Jahres um unsere Mutter kümmert, die seit einem Schlaganfall vor drei Jahren auf stetige Hilfe angewiesen ist, war im Kurzurlaub und so sprang ich ein. Glücklicherweise kultiviert meine Schwester im Gegensatz zu mir Urlaube eher als kurze Momente der Heimatnahen Alltagsunterbrechung und nicht wie ich gerne als ins endlose gedehnte Entdeckungsreisen – ihre Urlaubsziele sind, ungelogen, immer circa 30 bis 60 Minuten entfernt gelegen, ihre Verweildauer liegt zwischen 48 und 72 Stunden.
Glücklicherweise, da ich es länger auch nicht „Zuhause“ aushalten würde, denn kaum betrete ich die Wohnung meiner Mutter, in der alles nun für die Pflege arrangiert ist, überkommt mich immer eine unglaubliche Kraftlosigkeit. Konfrontiert mit der Rückkehr ins Kinderzimmer und ins Biotop meiner Mutter, zieht mein Körper sozusagen die Reißleine und erbittet sich viel eskapistischen Schlaf, um so zu vermeiden, dass ich mich zwischen den Pflegeintervallen allzu tief hinabziehen lasse in den Schlund der Erinnerungen.

Doch so willig ich mich der Trägheit auch hingebe, Konfrontationen mit der Vergangenheit sind schlichtweg nicht vermeidbar, wenn die Umgebung voller Schlüsselreize ist.

Wir alle sind an eine Welt der steten und immer schnelleren Veränderungen gewöhnt. Die Heimkehr in die Lebenswirklichkeit meiner Mutter ist jedoch zugleich eine Zeitreise, bei der sich die Uhr nicht wirklich zurückdreht: natürlich ist es auch bei ihr 2023 – und doch sieht alles im Haus und auch auch um das Haus herum aus wie Ende der 80er Jahre als ich hier noch lebte. Zwar ist die US-Amerikanische Kaserne, die keine 20 Meter Luftlinie vom Bolzplätzle, auf dem ich die Hälfte meiner Teenage-Nachmittage kicken war, lagen, schon längst deutschen Einfamilienhäusern gewichen, davon abgesehen herrscht aber eine erdrückende Zeitlosigkeit, manifestiert in den einzelnen Stationen meiner täglichen Joggingrunde, die am Bolzplätzle vorbei zum Hundeverein führt, weiter zum Robert-Bosch-Krankenhaus, zum Tennisverein (auf dem ich die andere Hälfte meiner Teenage-Nachmittage verbrachte) und dann, kurz bevor ich wieder am Haus meiner Mutter angekommen bin, liegt da die Tankstelle am rechten Straßenrand, für mich ein Unort im Zwischenreich von Steven King und David Lynch. Zu verdanken habe ich diesen meinem Vater, dessen Alkoholismus nicht davor halt machte, seinen Sohn zum Verbündeten zu ernennen und mich Tag für Tag zur Tankstelle zu schicken, um zumeist „a Rotweinle“ zu kaufen, aber manchmal auch „a Johnnie Walker“, wenn es schneller gehen musste mit seinem Vergessen der Wirklichkeit. Auch wenn ich zumeist ein paar „Taler“ extra bekam, um mir davon noch ein Mickey Mouse Heft zu holen (wobei es es sich primär um einen unausgesprochenen Schweigevertrag handelte, damit meine Mutter Nichts mitbekam – was natürlich eine Illusion war), die Tankstelle also auch eine positive Zuschreibung für mich besass, so radierte ich sie doch über die Jahre immer mehr aus der Landkarte meiner Erinnerungen aus, nur um mit ihr konfrontiert ein jedesmal von heftigen Wallungen erfasst zu werden.

Nur einer von vielen Orten in der Hood meiner Kindheit, die mich mit falscher Zunge heranlocken wollen, der guten alten Zeiten wegen. Aber gute Zeiten gab es hier nicht viele, sondern vor allem verdrängte Abgründe, familiäre Tragödien, Streits meiner Eltern, suchtbedingte Eskapaden, die man schon im Moments des Erlebens in den ewigen Nebel des Vergessens gleiten lässt.

Während meines letzten Besuchs musste ich viel an Terre Thaemlitz denken, die auf ihrer „Europatournee“ (anlässlich einer Ausstellung in der Halle für Kunst Lüneburg und drei Veranstaltungen in Berlin) zu begleiten ich in der Woche zuvor das große Vergnügen hatte. Terre lässt in seinen kritischen Gesellschaftsanalysen kein gutes Haar an der Familie, die für sie letztlich – stark verkürzt gesagt – nur ein Unort des steten Machtmissbrauchs ist. Und wer wäre ich, ihr zu widersprechen.

Wenn es trotz weit verbreiteter Erfahrungen, die nicht unähnlich der meinigen sind, Menschen dahin zieht, jenes Haus zu duplizieren, das ihnen die eigenen formativen Jahre so schwer gemacht hat (natürlich nicht im Sinne der bewussten Wiederholung, sondern im gefühlten Glauben, es anders machen zu können), so erscheint dies lediglich dadurch erklärbar, dass eine Verklärung stattgefunden hat, oder aber ein gezieltes Vergessen des Erlebten.

In seinem Buch „Camera Lucida: Reflections on Photography“ reflektiert Roland Barthes vergleichend über das, was er das Paradoxon des 20. Jahrhunderts nennt, als jenem Zeitintervall, der zugleich die Geschichte als auch die Fotografie erfunden hat: „Aber die Geschichte ist eine nach positiven Formeln fabrizierte Erinnerung, ein rein intellektueller Diskurs, der die mythische Zeit abschafft; und die Fotografie ist ein sicheres, aber flüchtiges Zeugnis.“ (Im Original: „A paradox: the same century invented history and photography. But history is a memory fabricated according to positive formulas, a pure intellectual discourse which abolishes mythic time; and the photograph is a certain but fugitive testimony.“)

Ja, unser Intellekt kann Zeit er- und abschaffen, ist in der Lage Erlebtes zu negieren. Mit der Kombination mit den realen und bildhaften Erinnerungen ist dies nicht mehr ganz so leicht. Beide reissen selbstgebaute Mauern im Kopf nieder und konfrontieren uns oft schlagartig mit der Vergangenheit.

Das Foto zu dieser Kolumne zeigt jene Tankstelle, bei der ich immer für meinen Vater einkaufen ging. Es ist ein aktuelles Foto. Ich habe es nicht getestet, aber ich denke (und hoffe), dass wenn man heute einen Teenager hineinschicken würde, dass er keinen Alkohol kaufen dürfte, damals interessierte es jedenfalls niemanden.

Ich weiß, es ist nicht schön das offen zuzugeben, aber wann immer ich das Haus meiner Mutter verlasse, wenn ich mein altes Kinderzimmer wieder für einige Monate hinter mir lasse, dann beginne ich kaum über die Türschwelle getreten wieder normal zu atmen. Mein Körper hat offensichtlich einen Schutzzustand entworfen, in den er mich versetzt, damit möglichst wenig von den Erinnerungen hochkommt, eine Art von „Familienschlaf“.
Umso härter erwischt es mich seit einigen Besuchen immer an der Haltestelle der Straßenbahn, mit der ich zum Bahnhof fahre. Gerade mal 50 Meter Luftlinie entfernt liegt das ehemalige Kinderzimmer meines Jugendfreund Gustl. Heute sind die Rollläden immer unten, da er vor einigen Jahren, geplagt von den Dämonen seines Lebens, den Freitod vom Dach des Hochhauses gesucht hat – und direkt vor das Fenster seiner Eltern gesprungen ist.

Familientragödien sind überall. So sehr wir es auch versuchen, wir werden sie nie los. Wir müssen lernen, mit ihnen zu leben und das beste aus dem Dialog mit der Vergangenheit zu machen, im Wissen, dass es an uns liegt, die Zukunft besser zu gestalten.

in memory of Gustl

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