"Mein gereiztes Ich"

„We are busy!” – Schwarzer Kaffee, ein selbstinszeniertes Arschloch und „Evil Does Not Exist“

Das Schwarze Meer, nur eine Düne entfernt

 

Wir alle kennen sie, diese Tage, an denen man sich selbst nicht mag. Heute ist ein solcher. Aufgewühlt, ja gereizt mäandere ich durch den obszön gigantisch geratenen Flughafen von Istanbul, so protzig übertrieben in jedem Millimeter seiner Konstruktion, dass die Großartigkeit in ebenso übertrieben großen Buchstaben gleich am Eingang manifestiert wird: „Airport of the Year 2024“!
Damit auch ja niemand auf die Idee kommt zu denken, dies sei nur ein U-Bahnhof in Gelsenkirchen. 

 

Leer, ohne belebende Menschen, könnte der architektonisch beeindruckend kühl inszenierte Riesencontainer mit seinen sechs weitläufigen Belüftungskanälen vielleicht eine abstrakte Schönheit entwickeln, aber er ist nun mal nicht leer und so regen die – nennen wir es „Fluchtkorridore“ – meine Fantasie an, hier ließe sich wunderbar eine Fortsetzung von George A. Romeros Zombieklassiker „Dawn oft the Dead“ drehen, zumal Flughäfen ja sowieso die neuen Supermalls unserer Tage sind.

„Dawn of the Dead”

Und damit zurück in die real existierende Kapitalismushölle eines Marktplatzes, der kein Außen kennt. Alle Stände am Istanbuler Flughafen verfolgen eine Preispolitik, die quasi deckungsgleich ist – gut, das unterscheidet sie kaum von den meisten anderen Sonderhandelszonen, in denen Absprache zum Alltag gehört, aber 13€ für einen Fetzen Brot mit etwas darauf, das sollte man selbst nach drei heftigen Inflationsjahren noch als unangemessen hoch empfinden.
Aber selbst schuld, wenn man nicht dazu lernt und sich seinen Proviant mitbringt, das war ja bekanntlich schon in der Schule immer die einzig sinnvolle Strategie gegen das Verhungern. Und ja, ich werfe es mir in dieser bitteren Konsumstunde murmelnd selbst vor, zumal, und das ist das bitterste, es mir verwehrt wird, den Akt des Konsums wirklich zu vollführen.

Am Health Food Stand üben sich alle Mitarbeiter:innen in Zen, was ihnen derart gut gelingt, dass ich auch nach einigen Minuten nicht die heilige Aura von Ingwer Suppe und Kräuter Tee mit ihnen teilen darf.

Nicht viel besser ergeht es mir beim US-Chicken-Dreamland, das ich quasi als Rache als nächstes aufsuche – die fünf Mitarbeiterinnen zählen vor mir auf dem Counter immense Mengen Bargeld, die Scheine stapeln sich so hoch, dass Dagobert Duck freudig drin baden könnte. Nun sollte man denken, dass selbst angesichts der türkischen Hyperinflation, die diese Unmengen an Geldscheinen wahrscheinlich auf ein volles Portemonnaie runterrechnen, es den Kassiererinnen unangenehm sein sollte, dass ich ihnen beim Zählen zuschaue, doch weit gefehlt, sie registrieren mich nicht einmal. Erst als ich sie  anspreche, ob ich denn irgendwas mit Chicken gegen meinen mittlerweile heftigen Hunger bei ihnen erwerben könne, schauen sie lediglich kurz auf und negieren mein Anliegen knapp mit: „We are busy! Wir bedienen erst wieder in einer halben Stunde!“

Der nächste Versuch am Büdchen einer türkischen Brand sorgt auch nicht für ein besseres Ergebnis, immerhin sind mir aber die sechs Mitarbeiter:innen sympathisch für ihre offensichtliche Arbeitsverweigerung, da wird am Handy Musik gehört, gezockt (?) oder was auch immer kommuniziert.
Es sei ihnen gegönnt.

Die Verzweiflung führt mich schließlich magnetisch angezogen zu Starbucks. „Die Amerikaner:innen“ sollten den Tauschhandel “Ware gegen zuviel Geld” doch hinbekommen, denke ich halb resigniert, halb hoffnungsvoll. Ich sollte es besser wissen, hatte ich nicht am Vorabend noch in der New York Times gelesen, dass das Seattler Kaffee-Stockmarket-Unternehmen ein massives Angebotsproblem entwickelt hat: „There are a bazillion possible Starbucks orders — and it’s killing the company“ – und in der Tat, die zwei vor mir bestellenden Personen verlieren sich in einer nicht enden wollenden Order mit sehr vielen Geschmacksrichtungen und Zubereitungssonderwünschen so lange, dass ich langsam Angst bekomme, ob ich meinen Abflug nicht trotz großzügig kalkulierter drei Stunden (man mag es kaum glauben, aber ich liebe es normalerweise am Flughafen rumzuhängen, Musik zu hören, ein bisschen zu arbeiten; es ist für mich ein Ort, in dem wenig von mir gewollt wird). Irgendwann sind sie durch und ich kann endlich meinen schwarzen Kaffee und ein Sandwich bestellen.
Letzteres wird an diesem Tag das Fass zum Überlaufen bringen. Da der Mitarbeiter nicht klar benennen kann, was in der Tüte ist und für wen, die er auf den Counter legt, also ob es mein Sandwich oder einer der vielen Sonderwünsche meiner Vorbesteller ist, beschließt mein gereiztes Ich zum fauchenden und fluchenden Arschloch zu werden, so schlimm wie in einem dieser amerikanischen Filme, wo man irgendwann nicht mehr hingucken kann, da einem der Protagonist so unsympathisch wird, so dass fremd schämen es schon nicht mehr trifft.
Well, say my name.

Als die Sonne noch über Istanbul scheinte

Immerhin, ich fühle mich schlecht, den Mitarbeiter derart arrogant angegangen zu haben und zum Idealtypus des Klischees eines bornierten Kunden geworden zu sein. Ich hätte böse Blicke aller anderen Anwesenden nun wirklich mehr als verdient, doch schrecklicherweise kultivieren die Starbucks Angestellten eine (sicherlich getragen von ihrer Job-Angst und multipliziert von den vielen Überwachungskameras) Der-Kunde-ist-König-Haltung – auch wenn er ein absolutes Arschloch ist; und die anderen Kund:innen freuen sich eher, dass ich die Kontrolle verliere und mich so als Sprachrohr ihrer Unzufriendenheit für ihre Interesse einsetze. Denn wütend scheinen alle auf alles zu sein.

Wenige Minuten später und nicht mehr reisehungrig bin ich endlich an Bord des Flugzeugs, das mich nach Köln bringen wird. Alles scheint wieder normal. Ich würde allerdings lügen, wenn es so wäre. Ich bin aufgewühlt. Wie konnte ich nur so die Kontrolle verlieren?

Zum Glück hat das Flugzeug ein gut kuratiertes Bord-Entertainment-Programm. Im Angebot und meine Wahl: „Evil Does Not Exist“, der neuen Film des japanischen Drehbuchautoren und Filmemachers Ryūsuke Hamaguchi (濱口 竜介).

Eiko Ishibashi “Evil Does Not Exist”

Den Soundtrack, der, wie beim Vorgängerfilm „Drive My Car“ („ドライブ・マイ・カ“sー Doraibu mai kā“) – mit dem Hamaguchi der große Durchbruch gelungen war, er gewann den Golden Globe als bester fremdsprachiger Film, den Oscar als bester internationaler Film und wurde mehrfach in Cannes bei den Filmfestspielen ausgezeichnet – von der japanischen Musikerin Eiko Ishibashi komponiert, habe ich in den letzten Wochen schon ein paar mal gehört. Insofern bin ich besonders gespannt, wie die sehr spezielle, elegische Stimmung der sieben Stücke sich in Kombination mit den Bildern entfalten wird.

 

Kurze Beitragsunterbrechung für den Hinweis, dass Ishibashi und
Hamaguchi am 9.11. im HAU Hebbel am Ufer in Berlin ihre Film-Musik-Kooperation “Gift” präsentieren.

“Drive My Car”

Eine kurze Rückblende, der Bezüge wegen: „Drive My Car“ erzählt – nach zwei Kurzgeschichten von Haruki Murakami –, zunächst die Geschichte der glücklich wirkenden Ehe zwischen dem Schauspieler und Theaterregisseur Kafuku und seiner Ehefrau Oto, deren Idylle sich jedoch schnell in Betrug, Schweigen und Tod auflöst. Erst als Kafuku zwei Jahre später am Set einer Theaterproduktion die Fahrerin Kafuku kennenlernt, bietet sich ihm die Chance, die Ereignisse mit jemanden zu teilen; sie wiederum öffnet sich gleichermaßen und erzählt ihm vom Tod ihrer Mutter, die ihr Leben bis dahin sehr bestimmt hatte.

Hamaguchi gibt „Drive My Car“ all die Zeit, die der Film braucht, um seine Geschichte zu entwickeln. Seine Inszenierung ist bedächtig, gewährt den Schauspieler:innen den Raum, um sich und einander zu finden, die einnehmend unaufdringlichen und doch beeindruckenden Bilder stützen die Story, ebenso die wundervolle Musik von Eiko Ishibashi.

„Evil Does Not Exist“ („悪は存在しない“ / „Aku wa sonzai shinai“) schließt  sowohl ästhetisch als auch was die Inszenierung angeht direkt an „Drive My Car“ an. Auch diesmal gewährt Hamaguchi seinen Protagnost:innen die Luft, die sie brauchen, um zu sich zu finden.

Der Film ist ein bitter böser Kommentar auf die seit der Pandemie so boomende Wild-Life- / Camping-Industrie, die sich den Anstrich von Naturverbundenheit gibt, jedoch bis in den letzten Cent zynisch durch kalkuliert agiert.

Ein Tokioer Investor hat Land in einer kleinem Gemeinde erworben und plant ein Glaming-Camp (glamouröses Camping), der Dialog mit den Bewohner:innen des Dorfs wird jedoch nicht wirklich gesucht, zwei angeheuerte PR-Mitarbeiter:innen sollen das Projekt lediglich proforma vorstellen und helfen es schnell durchzuwinken, schließlich weiß man ja nie, wie lange der Trend umgeht. Doch die Präsentation wird zu einem Lehrbeispiel der unterschiedlichen Welten und endet nicht gut für die Stadtleute.
Hamaguchi zeichnet die Dorfbewohner:innen als sympathisch eigene Charaktere, die sehr sorgfältig zuhören und jedes Detail klar analysieren und pointiert formuliert auseinander nehmen – im Zentrum ihrer Kritik: der Plan würde das Gleichverhältnis zwischen der Natur und dem Dorf zerstören, mit Folgen, die keiner abzusehen vermag. Natürlich will der Investor nicht von seinem Projekt absehen – und so nehmen die Dinge ihren Lauf.

Ich hasse natürlich – wie wir alle – Filme, bei denen man von Anfang an fühlt, wo alles hinläuft, es am Ende aber trotzdem passiert, eben so, wie es leider auch allzuoft im Leben der Fall ist.
Deswegen wundert es mich nicht, als mir  vielleicht am Ende des Films die ein oder andere zarte Träne die Backe hinunter läuft.

Ryusuke Hamaguchi “Evil Does Not Exist”

“Evil Does Not Exist”, diese eindringliche Parabel auf die sich (zumeist offenbarende) Unvereinbarkeit von Mensch und Natur, funktioniert aber natürlich nur bedingt als Ablenkung von meinen Flughafenerlebnissen, spiegelt der Film doch genau genommen – in deutlicher ruhigerem und schönerem Setting – die Brüche, die sich im Kapitalismusthemenpark tagein, tagaus auftun und die performative Unfähigkeit von uns Darsteller:innen, sie im Dialog zu kitten.

Wobei der Dialog ja viel früher und in uns drin seinen Anfang findet:
Warum handle ich, wie ich handle?
Und kann ich es korrigieren?
Nicht immer sind die Rahmenbedingungen so, wie man sie gerne hätte. Meistens kriegt man es trotzdem irgendwie hin, die Fassade aufrecht zu halten, manchmal ist es aber auch okay, wenn nicht – so lange man sich seine Fehler eingesteht, die Gründe reflektiert und die Schuld auch bei sich sucht.

Stilleben einer untergehenden Sonne über Istanbul mit noch glückliche Autor

Ich lese gerade “Das Jahr des magischen Denkens“ von Joan Didion, ein Buch, das sie als Verarbeitung eines fürchterlichen Jahres geschrieben hat, in dem ihr Mann plötzlich an einem Herzinfarkt verstorben war und ihre Tochter schwer erkrankte. Didion versucht Hilfe zur Selbsthilfe über Fachliteratur zu finden – wobei sie in einen durchaus kritischen Dialog mit dieser geht. So hinterfragt sie beispielsweise an einer sehr eindringlichen Stelle, ob zu große Trauer wirklich das Ergebnis einer ungesunden, da zu intensiven Beziehung sei, wie es eine Studie, die sie liest, behauptet, also dass die Trauer sozusagen die „Strafe“ für zu viel Nähe / Zeit / Leben sei, die man mit der/dem Partner:in geteilt habe – wenn man sich nicht so deep eingelassen hätte, dann wäre nun auch nicht alles so schlimm.

Gosh.

David Bowie erzählte ja oft, dass er von seiner Frau Iman Abdulmajid ab einem bestimmten Moment ihrer Beziehung keinen einzigen Tag im Leben mehr getrennt war – sicherlich eine Übertreibung, denke ich, aber die Essenz der Aussage kommt rüber.
Eine sehr schöne Vorstellung. Warum sollte man auch getrennt sein wollen, wenn man liebt?

Ich fühle mich out of tune, weil ich das Biotop, wo ich mich am wohlsten fühle, weil ich die Person, bei der ich mich fallen lassen kann, heute verlassen musste, um working matters nachzugehen. Es geht nicht anders, aber es fühlt sich schmerzvoll an. Aber es ist deswegen natürlich noch lange kein Grund, dass es für andere schmerzvoll werden sollte.

Das Böse existiert nicht per se, wie Hamaguchi Ryusuke so poetisch pointiert seinen Film betitelt hat, es ist immer das Ergebnis von Eingriffen in die Natur der Dinge.

On a slightly positive note: es sind Bücher, Filme, Musik und die Gedanken an die Menschen, die wir lieben, die uns immer wieder aufs neue dabei helfen, wieder unsere weichere, freundlichere und demütigere Seite zu finden. Zumindest im Idealfall.

Zufall? Just in diesem Moment singt Anita Lane „I hate myself” in meine Ohren, zwar nicht wirklich auf mich und die Situation zutreffend, aber Songtexte sind ja immer das, was man aus ihnen macht: “I can’t look in the mirror / Because I hate what I see / It’s still the same face / But I, I know it ain’t me“.

Anita Lane „I hate myself”

Eigentlich hätte dieser Artikel bereits Ende August publiziert werden können und sollen, aber ein Gefühl sagte mir damals, dass ich lieber noch etwas warte damit, da ich nur zwei Wochen später und danach nochmals wieder nach Istanbul reisen würde und man ja nie weiß, wie kritische Worte gegen den Flughafen sich auf die generell sagen wir mal energischen Security Checks auswirken.

Übertrieben könnte man sagen – aber dann auch nicht, wie schon der nächste Stop-Over auf dem Weg nach New York zeigen sollte. Noch nie wurde ich derart an einem Flughafen gegrillt. Das begann mit dem ersten Security Guard (man wird am Gate des Flugs in die USA von einer extern angeheuerten Security Firma in drei Etappen gescheckt – und es ist offensichtlich, sie müssen für ihre Arbeitsstatistik “Ereignisse” konstruieren), der wissen wollte, woher dieser eine Stempel mit arabischer Schrift im Reisepass stamme. Ich konnte mich nicht erinnern und versuchte ihm nett zu erklären, dass ich viel reisen würde und ich ein bisschen überlegen müsse, schließlich könne ich es nicht entziffern, da ich des arabischen nicht mächtig sei. Seine Reaktion: Jemen? Irak? Iran?

Oh, daher weht der Wind. Ich verneinte mit allen Händen wedelnd. Er fragte energisch: “Sicher?” – Ich: “Ja.”

Er fragte noch energischer: “Wirklich sicher?” – Ich: “Jaaaaaa!”

Irgendwann winkte er mich weiter. Es sollte nur das Vorspiel gewesen sein. Der nächste Security Posten behauptete zunächst, dass ich kein gültiges ESTA Visum für die Einreise in die USA hätte. Meine Versicherung, ich hätte es erst gestern noch pedantisch online gecheckt, dass es noch gültig sei, wurde weggewischt. Ebenso mein Vorschlag gemeinsam an meinem Laptop mal eben reinzuschauen.

Stattdessen für 15 Minute Angebrülle … irgendwann wechselte er dann zurück zum Stempelthema seines Vorgängers. Zum Glück konnte ich mich mittlerweile erinnern, er stammte von einer Marokkoreise. Damit war das Thema aber nicht durch. Warum ich denn nach Marokko gereist sei – und das offensichtlich schon mehrmals. Es sei da schön, erwidere ich, meine Freundin und ich mögen die Kultur des Landes, die Städte, die Landschaften, das Essen  … ich durfte nicht ausreden, mit einem “was daran denn schön sein soll” wurde ich weiter geschoben. Noch immer nicht zum Gate, sondern zu einem dritten Security Check, bei dem ich alle meine Koffer komplett ausräumen musste, inklusive Unterwäsche

. Eine Chinesische Familie kommentiere später: “They really fucked you!” – ja, das haben sie.

Ich schaffte es dann aber doch nach New York und auch nochmals nach Istanbul und wieder Nachhause. Insofern: Wieder viel über die Welt und mich gelernt – und endlich diesen Beitrag auch veröffentlicht.

Verlagssitz
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop | Aquinostrasse 1 | Zweites Hinterhaus, 50670 Köln | Germany
Team
Herausgeber & Chefredaktion:
Thomas Venker & Linus Volkmann
Autoren, Fotografen, Kontakt
Advertising
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop
marketing@kaput-mag.com
Impressum – Legal Disclosure
Urheberrecht /
Inhaltliche Verantwortung / Rechtswirksamkeit
Kaput Supporter
Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop dankt seinen Supporter_innen!