Anita! – „Songs for the Lost“ – Interview / Videpremiere "Made of Stars"

Anita!: Pop als kultureller Austausch

Anita!, Still aus “Made of Stars”

Anita, dein Anfang März veröffentlichtes Album „Songs for the Lost“ stellt für mich einen überraschenden Bruch zu den letzten Produktionen und Auftritten dar, die ich von dir gehört und gesehen habe. Statt Dance Music in Multicolor plötzlich verletzlicher Melancholiepop in der Tradition von Mazzy Star. Nun kommt das sicherlich nicht gänzlich aus dem Nichts, da du ja neben deiner verträumten Stimme auf der Bandcamp Seite selbst die Ambition hervor stellst, Genres zu transzendieren. Mich würde aber trotzdem interessieren, wie es zu „Songs for the Lost“ gekommen ist?

Als ich vor ein paar Jahren wieder mit Singen anfing, habe ich sehr viel Musik produziert. Allein oder in Kollaborationen, in unterschiedlichsten Genres. Vieles davon habe ich noch gar nicht veröffentlicht.
Bei Konzerten tendiere ich tatsächlich häufig dazu, meine tanzorientierten Songs zu spielen, da ich sehr gerne Party mit dem Publikum mache oder mich auch mal zwischen den Songs mit ihm unterhalte. Dieser Aspekt des gemeinsamen Feierns ist für meine Vorstellung von Pop als kultureller Austausch sehr wichtig. Die Bedeutung des Verlusts dieses Zusammenfeierns wird einem gerade deutlich vor Augen geführt.

Aber ich bin ja nicht nur ein berüchtigtes Disco Party Girl. Die etwas besinnlichere, introvertierte Seite, die jetzt bei “Songs for the Lost” mit Elementen des Dream Pop, Ethereal und Folk stärker zum Vorschein kommt, konnte ich bisher noch nicht so ausgiebig auf der Bühne ausleben. Es bedarf dafür auch ehrlich gesagt mehr Mut, es schafft einen anderen Nähe/Distanz-Raum zum und mit dem Publikum.
Beide Phänotypen – das Introvertierte und Extrovierte – zu vereinen, habe ich dann mit dem Claim “dreamy voice transcending genres” umschrieben. Beides ist mir in meiner Arbeit des Songwritings wichtig. Auch wenn es die Profilbildung auf der Suche nach seiner Nische oder dem passenden Label eventuell erschwert, eine eher inkonsistente Zusammenstellung von Interessensgebiete zur Schau zu stellen.

Anita!& Robert Vater

“Songs for the Lost” ist dann komplett letztes Jahr 2019 entstanden. Ein für mich persönlich katastrophales Jahr, weil es mir lange physisch und dadurch irgendwann auch psychisch sehr schlecht ging, da ich durch ein chronisches Leiden in meiner Bewegunsfähigkeit so eingeschränkt war, dass meine Lebensenergie stark darunter gelitten hat. Durch diese Überforderung kam ich auch zusehends schlechter mit anderen Menschen aus. Eine Negativspirale. Musik war der einzige Fluchtweg, meinen Körper und die Schmerzen zu verlassen. Wenn ich Musik mache, trete ich in eine andere Dimension, ich bin entrückt, in einer schwerelosen Blase, als könnte ich unter Wasser atmen. Das fühlte sich an, wie meine Lebensrettung. Für diesen transzendierenden Vorgang, eine andere Wirklichkeitsebene zu erreichen und dadurch auch die Möglichkeit einer Außenperspektive zu erlangen, steht für mich auch die Tradition der Choralmusik, weswegen ich dann “Call Me” als Opener des Albums gewählt habe.

Du sehnst dich auf dem Album nach Anrufen, singst von eskapistischen Sehnsüchten und Dämonen – nun ist das Album natürlich vor Corona entstanden, wie empfindest du die Schwere, die auf ihm liegt aber selbst in diesen Tagen? Ist es ein anderes Album geworden für dich?
Ich denke nicht, dass es ein anderes Album für mich geworden ist. Die Bearbeitung solcher Themen wie Melancholie, Weltschmerz, Dystopien kann ja eine kathartische Wirkung haben. Traurigkeit ist als Empfindung im ersten Moment nicht schön, ich halte sie aber für eine unabdingbare Voraussetzung, um bei einem Menschen ein Veränderungspotenzial zu wecken, auch um so etwas wie Demut zu empfinden und der verbreiteten Hybris und Allmachtsphantasien etwas entgegenzusetzen. Diese Katharsis ist weiterhin die Grundlage meiner Selbstwahrnehmung von “Songs for The Lost”.

Ein bisschen Kassandra Complex war aber schon im Spiel: 2019 war in meiner Wahrnehmung bereits der Beginn einer neuen Ära. Es war weltweit das heißeste und trockenste Jahr, in den Wäldern sind die Bäume flächendeckend abgestorben oder bei Waldbränden verbrannt, erste für uns sichtbare konkrete Folgen der von uns Menschen verursachten Erderwärmung. Das hat mich sehr verstört und diese dystopischen Visionen haben sich in den Songs niedergeschlagen.

In dem Song “Close your Eyes” geht es beispielsweise darum, wie wir sehenden Auges, wie Schlafwandler in die Katastrophe laufen. Wenn es dann zu spät sein wird, wenn unser “Haus” brennt, dann werden wir nichts anderes tun können, als hilflos, ohnmächtig vor Angst, unsere Augen zu verschliessen. Es wird uns aber nicht mehr vor den Flammen beschützen. Der Song bezieht sich auch auf John Milton’s ‘Paradise Lost’, einem Gedichtepos aus dem 17. Jahrhundert über die Hybris und den Fall von Engeln und Menschen. Die Anfangsszene des weinenden Lucifers inmitten eines Flammenmeers rührt mich jedesmal.

In den letzten Monaten ging es mir durch eine Behandlung gesundheitlich besser, weshalb ich in der Quarantänezeit ehrlich gesagt ziemlich guter Dinge war. Mir hat auch die Stille und Entschleunigung während des Ausnahmezustands sehr gefallen. Vielleicht auch, weil ich in Antizipation der Konsequenzen von Corona ganz bewußt noch die Ruhe vor dem Sturm, der aufkommenden Weltwirtschaftskrise und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Turbulenzen, geniessen wollte.

Vor kurzem ist mit „Nothing to Touch“ ein Song mit Video von dir erschienen, das als Bindeglied zwischen deinem Dance Floor Projekt und dem aktuellen Anita! Album zu sehen ist, einerseits frei, andererseits ängstlich. Der mystisch-melancholische Clip von Robert Vater betont dies noch. Die Musik ist in diesem Fall mit Eckenkind zusammen entstanden. Fallen dir Kollaborationen denn leicht? Und hast du den Eindruck, dass sie dich woanders ankommen lassen, als wenn du alleine an Musik arbeitest?
Ich liebe es, von anderen inspiriert zu werden, in künstlerischem Austausch zu stehen, und gemeinsame, konstruktive Arbeit ist wirklich eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Mit Robert Vater verbindet mich eine langjährige Zusammenarbeit an Musikvideos, eigenen Videos, oder für Musiker wie zum Beispiel Roger Eno, mit experimentellen, poppigem oder poetischem Charakter.
Eckenkind habe ich lustigerweise auf einem Hgich.T Konzert kennen gelernt und war dann wirklich sehr überrascht und begeistert, als ich seine eigenen musikalischen Produktionen gehört habe, eine große Bandbreite von JapanPhonk, Lofi, Pop bis Trap. Er hat auch eine Produzentengruppe ins Leben gerufen, die nur über whatsapp und soundcloud vernetzt ist. Dort entstehen mitunter tolle Kollaborationen, teilweise auch mit Produzenten, die ich gar nicht persönlich kenne.
Viele Künstler kennen sicher diese Zustände quälender Hypersensibilität, was oft wie ein inneres Gefängnis ist. Die Zusammenarbeit mit anderen erleichtert und befreit mich ungeheuer. Also wenn sich das Glück einer harmonischen künstlerischen Kollaboration ergibt, was sehr selten ist. Oft lassen sich Gefühle und Zustände, nicht unmittelbar und augenblicklich, im direkten Austausch, sondern nur auf einer anderen Ebene mitteilen. Kunst ist ein telepathisches Werkzeug, welches es möglich macht, die Tiefe und Komplexität der Wirklichkeit zu reflektieren, auch Unaussprechliches, und das beinahe Nichtformulierbare.
Gefühlt würde ich mir wünschen, noch mehr real life bzw. live Projekte mit anderen zu machen. Also Echtzeit-Konzerte mit Live-Instrumenten wie bei einer klassischen Band.

“Made of Stars”

Eigentlich sollte dein Song „Made of Stars“ im Rahmen einer ESC2020-Streaming-Gala in Düsseldorf Premiere feiern. Das ging sich dann wegen Corona aber leider nicht aus. Trotzdem würde michzunächst  interessieren, was dich am European Song Contest so fasziniert? Dem Song haftet eine französische Stimmung an, zumindest für mich? Weißt du, was ich meine? Was kannst du zu dem Clip sagen? Wer hat ihn gemacht, wo habt ihr gedreht, und was hat dich / euch zu dem Clip inspiriert?
Die erste Inspiration zu dem ‘Made of Stars’ Video hatten wir, als ich mit meinem Video-Produzenten Robert Vater diesen Mähdräscher-Youtube-Channel gefunden habe und wir uns nächtelang holländische Mähdräscher beim Tulpenköppen angeschaut haben. Dort wollten wir dann unbedingt zusammen filmen.
In dem Song “Made of Stars” geht es zum einen um die scheinbar unauflöslichen Widersprüche im Verhältnis des Menschen zu seinem Heimatplaneten. Dem immer größer werdenen Widerspruch zwischen Natur und menschlicher Kultur und Technik. Zum anderen um das Paradoxon menschlicher Existenz: dass wir zwar “aus Sternen gemacht sind” – die Atome in unserem Körper sind letztlich uralter, kosmischer Staub – aber vorläufig auf keinem anderen Planeten, als auf unserem Heimatplaneten Erde leben können. There’s no life on mars!

Im Musikvideo taumelt eine Astronautin, die auf einem fernen Planeten gestrandet ist, durch eine unwirtliche, lebensfeindliche Landschaft. Sie irrt entlang einer sturmgepeitschten Küste, die sich mit endlosen, monotonen Blumenfeldern abwechselt. Trip oder Traum, vermischt mit Erinnerungen an eine Erde in der Zukunft, die vielleicht auch schon längst vergangen ist.

“Made of Stars”

Zu der Idee einer ESC-Gala kamen dann in den letzten 12 Monaten mehrere Aspekte zusammen. Zunächst habe ich das erste mal seit vielen Jahren eher zufällig in den Eurovision Song Contest 2019 in Tel Aviv reingezappt und war, für mich selbst überraschend, total begeistert von der Show. Madonna ist auch aufgetreten und hat “Like a prayer” ohne Playback und ‘safety net’ ein wenig schief gesungen, was ich total cool fand. Sie hat damit auch gezeigt, wie schwer es ist, live zu singen und dabei auch noch zu dancen und zu performen, in dem Fall obendrein einen über 20 Jahre alten Song. Das war ehrlich und real und hat mir total gut gefallen. Und natürlich war ihre kritisierte Darbeitung immer noch um Meilen besser, als alles andere, was es da sonst zu hören gab.

Die kleine Tochter einer Freundin meinte dann, ich müsse mich unbedingt für den ESC2020 bewerben. Das habe ich mit “Made of Stars” auch tatsächlich getan. Leider erfolglos. Die Komposition und die universell zeitgemäße Aussage von “Made of Stars” hatte für mich durchaus ESC-Potential und natürlich hätte ich mir auch ein große Reichweite für die Botschaft des Songs gewünscht.
Später im Jahr habe ich mich dann bei einem meiner Auftritte in Düsseldorf mit einer super coolen Drag Queen Gruppe angefreundet. Eine gemeinsame Streaming-Gala im Geiste des ESC mit ihnen, in dessen Rahmen das Musikvideo zu ‘Made of Stars’ premieren sollte, wäre eine schöne Alternative gewesen. Leider ist diese kleine Gala aber auch aufgrund der Corona Unwägbarkeiten ins Wasser gefallen. Ich hoffe aber sehr, dass sich dieses Jahr nochmal eine Gelegenheit für eine Video-Premiere mit Live-Show irgendwo ergibt.

Anita! & Möbius

So hatte sich also mein Interesse am ESC im letzten Jahr etwas fokussiert. Insgesamt würde ich mich aber nicht unbedingt als ESC-Fan outen. Auch wenn dieser Wettbewerb natürlich im Laufe der Jahrzehnte einige wunderschöne Auftritte hervorgebracht hat. Wie zum Beispiel den einer meiner Lieblings-Sängerinnen Francoise Hardy, um mal auf deine Frage nach der französischen Stimmung einzugehen. Bis 2001 lief der Wettbewerb ja auch noch unter dem französischen Namen Grand Prix Eurovision de la Chanson.
Natürlich habe ich neben Francoise Hardy eine Reihe von französischen (wie auch aus anderen Ländern) Vorbildern in Musik und visuellen Künsten, beispielsweise den Zeichner und Visionär Moebius. Da ich selbst auch male und illustriere, ist der Moebius-Look vielleicht unterbewusst in das Video “Made of Stars” mit eingeflossen. Es löst aber grundsätzlich etwas Unbehagen aus, sich mit seinen Vorbildern zu vergleichen.

Ich würde es auch eher als transnationalen Futurismus beschreiben, der meine Arbeit beeinflusst. Mit ‘Scorn & Devotion’, dem Musik-Produzenten des Songs ‘Made of Stars’, der auch das diy Synthesizer-Projekt ‘KrautKontrol’ betreibt und kleine Syntheziser ‘to go’ baut (z.b. aus Butterdosen für den Schulhof) habe ich viele Gespräche über unsere musikalischen Vorbilder und Inspirationsquellen geführt. Dabei fiel uns auf, dass es in den 80ern, also in unserer Kindheit, noch so eine positive Fortschritts- und Zukunftsvision gab. Und dieser Optimismus war sicher auch getragen vom Syntheziser-Sound der Ära. Ich bin mit diesen ganzen wundervollen Kinderfilmen und Serien aufgewachsen. Viele waren japanische und französiche Animes und hatten diesen besonderen Charme. Wie zum Beispiel”‘Le Maitres duTemps”, “Es war einmal…der Mensch” oder “Captain Future” – futuristisch und herzlich – was, anders als heute, kein Widerspruch zu sein schien.

Was ist dein aktueller Lieblingssong von anderen? Warum? Und bitte mit Link zu Song oder Video.
Mein aktueller Lieblingssong ist “Der einsamste Mann in der Stadt” eine dezent minimalistische Synth-NDW 7” B-Seite, die sich in der Anfangsphase der Coronazeit zur Untergrundhymne gemausert hat. Davon inspiriert und doch ästhetisch wieder an meine “Songs for the Lost” EP andockend, komponiere ich momentan ein Pendant mit englischen Lyrics zu diesem Song.

Und mal in eigener Sache gefragt: Was ist dein Lieblingsfeature auf Kaput?
An Kaput gefällt mir besonders die Bandbreite, um hinter die Fassaden der öffentlich rezipierten, aber auch nicht so popular zugänglichen Aspekte der Popkultur zu blicken. Speziell angesprochen hat mich das Interview mit Arya Zappa über ihr zuletzt veröffentlichtes Album “Dark Windows”. Für mich eines der schönsten Alben in jüngster Zeit. Den Song “Falling” höre ich seit Monaten rauf und runter. Arya Zappa ist eine von vielen Alter Egos der Produzentin, Label-Chefin und Masterminds Maral Salmassi, die auch zwei Remixe für meine nächste (Video-)Single produziert hat. Wieder in einem ganz anderen Genre, welches ich gerne transzendieren würde, bevor es bald ganz von der Bildfläche verschwindet: deutschsprachiger Trap.

 

 

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