Night of Surprise – Festival – Interview

Night of Surprise 203: Ein Appell an Offenheit und Neugier

Ahmed

 

„Horizonterweiterung. Zusammenkommen. Verlaufen. Experimentelle Nischen. Radikale Grenzgänge. Tabula Rasa. Extreme ausloten. Transtraditionelle Schwebezustände. Queer Revolt Music. Äußerste Konzentration. Feine Poesie. Dronenrausch. Ohne Sitzplatzreservierung. Radical Jazz meets Avantgarde Minimalism. Noise Metal meets Kraftwerk. Erschöpfung. Begegnung. Neuorientierung.“

 



Die Selbstbeschreibung, die das NoS-Team für ihr Totale-Überforderung-Happening „Night of Surprise“ verkündet, bleibt sich über die Jahre treu, das Lineup ist dabei stets neu am Puls der Zeit ausgerichtet, bedient dabei aber gleichermaßen die Sehnsucht nach immer neuen verwegenen Soundentwürfen als auch die Liebe zu bewährten Favoriten.

Im Vorfeld der diesjährigen Auflage sprach Kaput mit Thomas Gläßer, der das Festival konzipiert hat, und es aktuell unter Mithilfe von Kieran Kaul, Friedemann Dupelius Sophie Beha und Meryem Erkus sowie des Stadtgarten Programm-Teams umsetzt.

 

Die Lineups der “Night of Surprise“-Serie  beeindruckenden durch ihren Umfang und die stilistische Breite. Zunächst die inhaltliche Frage: wie gehst du an die Programmierung heran, fängt das immer mit ein, zwei Künstler:innen an, die dann den Vibe vorgeben und die restliche kuratorische Kettenreaktion sozusagen auslösen, oder wie hat man sich das vorzustellen? 

Thomas Gläßer: Das ist eine gute Frage, zu der ich die Antwort gar nicht so einfach aus dem Ärmel schütteln kann. Aber es ist zumindest für mich spannend, das so konkret gefragt zu werden.
Es ist in der Regel jedenfalls keine besondere Kettenreaktion, und es gibt in der Regel auch keinen klaren künstlerischen Startpunkt, sondern mehrere Ausgangspunkte, die sich dann in einem oft auch etwas mühsamen Prozess aufeinander zu und wieder von einander weg bewegen, bis das Programm irgendwann – im günstigen Fall – an Stimmigkeit gewinnt.

Es gibt erstens eine Grundidee des Festivals als eine Art Labyrinth mit einer großen Grundfläche, dem  musikalischen Spektrum, also vielen verschiedenen, weit voneinander entfernt liegenden Eingängen, das sind die musikalischen Positionen der einzelnen Musiker:innen, verbunden mit den ästhetisch-sozialen Resonanzräumen, für die sie stehen. 

Zweitens entwickelt sich mit der Zeit meistens eine recht stattliche Longlist von interessanten Musiker:innen und Projekten, die in irgendeiner Weise zur „Night of Surprise“ passen könnten und dabei in der Regel mehrere Kriterien erfüllen: sie sprengen den Rahmen bestimmter Hörerwartungen und Genrekonventionen, zeichnen sich durch eine besondere Originalität, einen leicht erkennbaren unkonventionellen Charakter, eine besondere Frische oder ein starkes Aroma aus, das ein Programmieren in Kontrasten ermöglicht, durch eine außergewöhnliche Auseinandersetzung mit spezifischen musikalischen Fragestellungen oder Phänomenen usw. 
Und gleichzeitig müssen sie über für Nicht-Expert:innen leicht verständliche Aspekte verfügen, zum Beispiel über bestimmte energetische, emotionale oder – es geht mir nicht leicht von den Lippen und ist weder geographisch, noch ethnisch, sondern musikalisch gemeint – exotische Qualitäten. 
Und dann versuche ich, auch durchaus oberflächlich, so etwas wie Zeitgeist, Mode oder Aktualität einfließen zu lassen – auch wenn dieser Bezugspunkt sich für mich seit der Pandemie ein ganzes Stück verschwommener anfühlt. 

Einfach gesagt gibt es eine Art Grundidee, Algorithmus, Rezept oder Bauplan, an die ich mich immer wieder neu erinnern muss, um sie sich weiterentwickeln lassen zu können, und dann gibt es die Auseinanders

Wieviel Zeitaufwand fällt für die Programmierung und Durchführung einer “Night of Surprise“ bei dir selbst an? 


Das dauert tatsächlich lange, meistens weit über 200 Stunden pro Ausgabe – wahrscheinlich fließt tatsächlich noch mehr Zeit rein. Und wenn es schneller gehen musste, war ich oft vom Ergebnis nicht richtig überzeugt.
Um auszuwählen, welche Musik beziehungsweise welche Musiker:innen in dieses Mobilé passen, gehe ich immer wieder über meine eigenen Hörgewohnheiten und Vorlieben, geschmacklichen Schlüsselreize und Trigger hinaus, habe dann aber auch erstmal keinen stabilen ästhetischen Kompass, weil mir Kontext, Geschichte, Vergleichsmöglichkeiten fehlen und ich dann abwarten muss, bis sich im Pendeln zwischen dem Reiz des Unvertrauten und seiner Entzauberung Ansätze von Verstehen, ästhetische Urteile und anhaltendere Faszination einstellen.

Da sind natürlich immer auch Verirrungen, Sackgassen und wunderbare Rauschzustände ohne konkrete Ergebnisse dabei. Und am Ende ist es auch nicht schlimm, sondern beinahe erwünscht, dass sich im Programm verschiedene Qualitäten und Register finden. Hauptsache es entsteht ein spannendes, stimulierend heterogenes und gleichzeitig irgendwie kohärentes Mosaik.

Kill Alters

Was machst du abseits der “Night of Surprise“ noch so alles? 


Aktuell weniger als noch bis ins zweite Pandemie-Jahr hinein. Ich berate Institutionen, Festivals oder Ensembles, habe in diesem Jahr ein Doppelfestival für aktuelle und zeitgenössische Musik aus Afrika in Köln und Johannesburg organisiert und bin einer von drei Vorständen der Initiative Freie Musik IFM e.V., alsoso etwas wie kulturpoltischer Sprecher der freien Musikszene in Köln. Meine langjährige kulturpädagogische Tätigkeit im Bereich Vermittlung und kulturelle Bildung liegt dagegen im Moment auf Eis.

Ich sitze in der Musikfonds Jury und weiß so sehr gut über den bürokratischen Aspekt so einer Veranstaltung Bescheid. Funktioniert so ein ambitionierter Happening wie die  “Night of Surprise“, zumal ihr ja keinen Eintritt verlangt, in 2024 eigentlich noch ohne Förderung? Ihr habt diesmal ja Förderungen vom Musikfonds e. V. und vom Kulturamt der Stadt Köln, Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen erhalten. 

Natürlich funktioniert die “Night of Surprise” nur mit öffentlicher Förderung, da die durch den freien Eintritt entstehende Zugänglichkeit ein wesentlicher Faktor des ganzen Konzepts ist. Wir hoffen auch daher sehr, dass die Förderung des Festivals und die Kulturförderung die aktuellen Krisen unbeschadet übersteht.

War das früher anders? 

Nicht bei unserem Festival, das von Anfang an gefördert war.

Wie nimmst du diesen Prozess der Finanzierungsförderung war? 


Das hat mehrere Facetten: Einerseits finde es anstrengend und immer noch gewöhnungsbedürftig und auch mit einem Gefühl von Abhängigkeit verbunden, immer wieder neu Förderungen zu beantragen, Rechenschaft abzulegen, sich mit der ganzen Administration herumzuschlagen. 
Gleichzeitig erscheint es mir als ein wünschenswert luxuriöser Zustand, mit öffentlichen Geldern eine Veranstaltung wie die “Night of Surprise” organisieren zu können, weil hier das Eigensinnige und das dionysisch-verbindende auf eine Weise zusammenfinden, was eher selten vorkommt und mir grundsätzlich erstrebenswert und interessant erscheint.

Trance Map

Ich bin aktuell in New York und ärgere mich sehr über die mittlerweile bedingt durch die Inflation absurd hohen Museumseintrittspreise, die dafür sorgen, dass nur noch eine gewisse wohlhabende Schicht an dieser Facette des Kulturbetriebs teilnehmen kann. Die Konzertpreise stehen diese Entwicklung leider oft in nichts nach. Ich erwähnte es, die  “Night of Surprise“ ist immer gratis. Registriert ihr, dass das auch für Besucher:innen außerhalb der üblichen Kultur-Bubble sorgt? 


Das hängt ein bisschen davon ab, was Du mit Kultur-Bubble meinst – ich glaube nicht, dass die “Night of Surprise” tatsächlich auch Menschen erreicht, die sich wenig für Kultur interessieren, aber dafür dass sie durchaus viele Menschen außerhalb der diversen “Insider-Kultur-Bubbles” erreicht, und auf jeden Fall eine sehr bunte Mischung aus ganz verschiedenen Bubbles, die sich so selten über den Weg laufen. 
Ich kann Deine New York-Museen-Beklemmung recht gut nachvollziehen, weil leichter Zugang zu öffentlichen Kulturinstitutionen ein hohes Gut ist, gerade weil Museen oder Bibliotheken eigentlich so geduldige öffentliche Orte sind, aber generell erscheint mir ein hohes Maß an Heterogenität im Publikum von Kulturveranstaltungen kein selbstverständlicher Selbstwert zu sein. Subkulturelle Communities oder auf der geteilten Kenntnis von Kontexten, Geschichte, Codes oder Songs beruhende soziale Resonanzräume und Szenen können hochinteressant und demokratisch wünschenswert sein, weil in ihnen andere Bindungen und Auseinandersetzungen entstehen können. Denk mal an einen klassischen Jazzclub, der vom Privatengagement von Fans getragen wird oder ähnliches. Solche Zirkel müssen auch nicht per se elitär oder geschlossen sein. Aber natürlich sucht die “Night of Surprise” in der anderen Richtung, die Begegnung verschiedener “Bubbles” und eine auf vielen Ebenen erhöhte Heterogenität auf allen Ebenen, in der der Reiz des Unvertrauten im Mittelpunkt steht und der Zugang an keine Zugehörigkeitsvoraussetzung geknüpft ist. Persönlichkeitspsychologen würden allerdings wahrscheinlich sagen, dass das Appellieren des Festivals an Offenheit und Neugier wiederum auch eine bestimmte Gruppe von Persönlichkeiten anspricht, die im besonderen Maße über dieses Persönlichkeitsmerkmal verfügen.

Die  “Night of Surprise“ ist keine Solo-Nummer von dir, sondern entsteht in Kollaboration mit  Reconstructing Song, Spa, den Cologne Sessions – und  in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Aktuelle Musik ZAM e.V.. Kannst du ein paar Worte zum kuratorischen Prozess der Gruppen verlieren? 


Die genannten Gruppen sind nicht als Gruppen am kuratorischen Prozess beteiligt, sondern entweder als Einzelpersonen wie Kieran Kaul und Friedemann Dupelius oder es handelt sich wie bei den Cologne Sessions um langjährige Partner. und Unterstützer aus der Zeit, als die Grundidee der “Night of Surprise” im Wesentlichen eine öffentlichkeitswirksame Zusammenschau der kuratierten experimentierfreudigen Programme im Stadtgarten war, zu denen u.a. die Cologne Sessions und die Reihen Sounds, Wrong Feels Right und Reconstructing Song gehörten. Gleichzeitig arbeiten seit dem letzten Jahr Kieran, Friedemann, Sophie Beha und Meryem Erkus an der Kuration mit; wir sind immer noch dabei, die Arbeitsweise zu entwickeln. Das gemeinsame Sammeln und Filtern von Vorschlägen zu einer Shortlist spielt dabei eine Rolle, ebenso das gemeinsame Nachdenken über die Dramaturgie des Abends oder die vertiefte Diskussion einzelner Künstler:innen – angesichts des vorhin beschriebenen aufwändigen Gesamtprozesses und des für den gemeinsamen Kurationsprozess zur Verfügung stehenden Budgets handelt es sich im Moment eher im eine Zuarbeit und kritisches Feedback als um gleichberechtigte Entscheidungsprozesse. Wir diskutieren gerade selber, wie war das weiterentwickeln möchten, was inhaltlich wünschenswert und pragmatisch machbar ist.

Ich zitiere Eure Ankündigung, die ich als Resümee der Erfahrungen der letzten Jahre lese: “Horizonterweiterung. Zusammenkommen. Verlaufen. Experimentelle Nischen. Radikale Grenzgänge. Tabula Rasa. Extreme ausloten. Transtraditionelle Schwebezustände. Queer Revolt Music. Äußerste Konzentration. Feine Poesie. Dronerausch. Ohne Sitzplatzreservierung. Radical Jazz meets Avantgarde Minimalism. Noise Metal meets Kraftwerk. Erschöpfung. Begegnung. Neuorientierung.“
Macht ihr nach einer “Night of Surprise“ immer eine ausführliche Nachbesprechung? Und da ich von einem „ja“ ausgehe, würden mich die Ableitungen der letzten Jahre interessieren, die sich nun im aktuellen Programm widerspiegeln.

Ja, natürlich reflektieren wir gemeinsam, was wie gelaufen ist, wo wir nachjustieren und weiterdenken müssen. Ich möchte exemplarisch nur ein paar Dinge benennen: Wir haben den Eindruck, dass die Kohärenz und Atmosphäre des Abends teilweise an beschreibbaren Faktoren hängt, wie der Schlüssigkeit der Dramaturgie und der Balance zwischen Fremdheit und Zugänglichkeit, Wärme, Emotionalität und Abstraktion, auch an der Vielfalt und Vielschichtigkeit der möglichen Zugänge, damit das Festival für Musikexpert:innen und Nerds und ein allgemeiner neugieriges Publikum gleichermaßen attraktiv ist. 
Zweitens beginnen wir in Frage zu stellen, wo die Fülle in Überfülle kippt und werden uns das in diesem Jahr sehr genau anschauen – möglicherweise wird uns die seit der Pandemie und den multiplen Krisen verbreitete Erschöpfung und Dünnhäutigkeit zu einer kritischen Selbstbefragung und einer leichten Entdichtung des Abends führen. 
Drittens haben wir mit den beiden Preludes – einer Premiere der sehr feinen, sich langsam entwickelnden Musik der Komponistin Catherine Lamb am 12. Oktober und einem Auftritt des aufregenden transtraditionellen Trickster Orchstra am 13. Oktober – einen Teil der Dezentralisierung, Entzerrung und der Einbeziehung rahmensprengender Formate aus dem zweiten Pandemie-Jahr mitgenommen.

 

33 EMYBW

Dieses Jahr treten neben den von Dir genannten Preludes in der zentralen Night of Surprise am 14. Oktober folgende Künstler:innen und Gruppen auf:
33 EMYBW (Shanghai), أحمد[Ahmed] (London / Paris / Berlin), Audrey Chen & Kaffe Matthews (Berlin) Dreamcrusher (New York City), HJirok (Hani Mojtahedy & Andi Toma) (Berlin), Kill Alters (New York City), Liz Kosack & Andrew D´Ángelo (Berlin), Kukangendai (Tokyo), Otis b2b DJ Brom (Brüssel / Köln), Trance Map (Canterbury / Nantes),  Violent Magic Orchestra (Tokyo), Yann Gourdon (Auvergne-Rhône-Alpes), Witch´n´Monk (Kolumbien / UK), Y-Dra (Java / Indonesia) …
Ich habe bewusst die Herkunft stehen lassen, wie wichtig ist Euch die Internationalität des Programms?

Die Internationalität des Programm ist uns tatsächlich sehr wichtig, ebenso wie die vielen Köln- oder Deutschlandpremieren und die konsequente Beteiligung von lokalen und regionalen Musiker:innen. Viele weiter oder selten reisende experimentelle Musiker:innen, zum Beispiel aus Asien oder Afrika, tauchen in Köln weniger häufig und selbstverständlich auf als zum Beispiel in Berlin oder London, einfach weil freistehenden Konzerten mit unbekannten Künstler:innen und sperriger, unkonventioneller Musik in Köln oft nur schwer Publikum zu mobilisieren ist. Die “Night of Surprise” ist hier für Künstler*innen und Agenturen ein Ankerpunkt in Köln geworden, auch wenn unsere Spielfläche natürlich sehr begrenzt ist. Das schöne an der “Night of Surprise” ist, dass wir solchen hier teilweise wenig bekannten Musiker*innen durch die Popularität und die öffentliche Förderung der “Night of Surprise” sowohl brauchbare Gagen als auch ein interessiertes Publikum bieten können. Ebenso können wir auch etwas teurere Highlight-Projekte oder Premieren ermöglichen und neue Projekte präsentieren, die noch keine Musik veröffentlicht haben – wie dieses Jahr zum Beispiel das Projekt HJirok der herausragenden kurdischen Sängerin Hani Mojtahedy mit Andi Toma von Mouse on Mars.

Diesmal fällt der hohe Anteil asiatischer Künstler:innen auf. Zufall oder bewusste Entscheidung? 


Zufall und bewusste Entscheidung.

Thomas, dein Lieblingsstück 2023 einer der Künstler:innen aus dem diesjährigen Lineup?

Stichwort Labyrinth mit großer Fläche – ich antworte mal mit drei Punkten, die eine Fläche beschreiben:

33 EMYBW  “Arthropods Continent”

Yann Gourdon “Face A”

Kill Alters “Phantom Body 2”

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„Nights of Surprise“ 2023

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