„Wie wir wurden was wir immer noch werden“
Ein paar einleitende Worte zur September-Kuration, die der gemeinsamen Internet-Feuilleton-Vergangenheit von Tina Manske, Robert Mießner und mir (Christina Mohr) gewidmet ist. Wo fing es an und wie geht es heute weiter?
Ein übergreifendes Thema gibt es nicht, jede/r der drei darf über etwas schreiben, was ihn/sie interessiert. Wie früher eben 😉
Getroffen haben Tina Manske, Robert Mießner und ich uns auf www.satt.org, dieser zauberwürfelfarbig gestalteten Website, online seit dem Jahr 2000, die sich inzwischen auf Filmbesprechungen konzentriert. Mein eigener Einstieg bei satt.org war ein bisschen umständlich und langwierig: Eine Freundin kannte die Freundin von einem, der mit zwei anderen gerade ein Webmagazin gestartet hatte, das sich als Internet-Feuilleton verstand. Anspruchsvolle, aber nicht abgehobene Texte zu Kunst, Comic, Film, Literatur und Gesellschaft erschienen hier, jedoch zu wenige über Musik, weshalb ich ins Spiel kam: Weil ich mich doch auskennen würde. Das sah ich überhaupt nicht so und zierte mich eine Weile. Frank Maleu (einer der drei und der Freund der Freundin meiner Freundin) blieb am Ball und konnte mich davon überzeugen, es doch wenigstens einmal zu probieren. Und so erschien im August 2002 mein allererster Artikel für satt.org über die Punk-Ausstellung „Zurück zum Beton“ in der Kunsthalle Düsseldorf.
Dass der Text umgehend von einer anderen Website geklaut wurde, verurteilten die drei satt.org-Macher (außer Maleu noch Schriftsteller Marc Degens und IT-Wizard Torsten Franz) zwar scharf, meinten aber auch, dass es eine Art von Erfolg sei, wenn man im Netz kopiert würde. Ich machte weiter, wurde Musik-Redakteurin und konnte auf dieser satt-bunten Spielwiese schalten und walten, wie ich wollte. Als sich Tina und Robert (Robert bewarb sich ganz förmlich und siezte mich) dazugesellten, wurden wir ein prima – virtuelles – Team.
Im Echtleben lernten wir uns auch noch kennen, sehr wahrscheinlich bei einer der legendären „Begeisterungsshows“ im Berliner Kaffee Burger (quasi Vorläufer von KiK), die satt.org aus dem Netz in die Kneipe brachten, inklusive Stargastauftritten von unter anderen. Jens Friebe oder Räuberhöhle, und vorgelesenen Plattenrezensionen mit an die Wand gebeamten Covern.
Irgendwann war satt.org für uns over, in der Zwischenzeit hatten sich neue Aktionsräume ergeben. Die hiesige Popkultur-Netzwelt ist ja klein, man trifft sich hie und da, und schwupps, schreibt der eine für die taz und die andere für Titanic.
Auch wenn vieles Kraut und Rüben war bei satt.org und schon gar nicht up to date – „wie, ihr verlinkt keine Videos?“, oder „was, die Review erscheint erst drei Wochen nach der VÖ??“ – habe ich doch vieles dort gelernt. Einfach mal anfangen zum Beispiel.
Und den großen Vorteil eines Internet-Magazins schätzen gelernt: Auch wenn alle ja (zumindest damals) immer dann besonders stolz waren, wenn ein Text GEDRUCKT AUF PAPIER erschien, ist eine Website wegen des nicht existenten Erscheinungstermins doch flexibler. Zumal wenn an keinen Geldgeber gebunden (und deshalb natürlich auch null Kröten abwerfende) – man ist frei und kann über das schreiben, was eine/n interessiert, unabhängig vom Veröffentlichungsterminterror. Naja, fast: Fordert man immer nur Sachen an und „liefert“ nichts, fliegt man irgendwann auch bei der geduldigsten Promoterin von der Bemusterungsliste. Bei satt.org leisteten wir uns durchaus den Luxus, KünstlerInnen objektiv abzufeiern und andere, vielleicht angesagtere, zu ignorieren.
Wen wir interessant fanden, mailten wir unerschrocken an und fragten nach einem Interview – und erstaunlicherweise klappte das oft. Unvergessen Blixa Bargeld, der Robert und mir im Gespräch jovial beschied, „Sie sind die Zukunft!“ (also „wir“, das Internet-Magazin). Tja, wie geht man mit einer solchen Prophezeiung angemessen um? Man macht weiter, und, was mich angeht, sehr gern im Internet und fragt Leute für Interviews an – und am allerschönsten ist es, wenn sich das gedachte Oberthema ganz woanders hindreht und trotzdem ins Blatt, pardon, auf die Seite passt.
Achtung, krasse Überleitung: Ursprünglich sollte sich diese Kolumne nämlich dem Thema Arbeit, Ausbeutung und Kreativität im Kapitalismus widmen – beziehungsweise Strategien zur Arbeitsvermeidung, die die Faulheit feiern. So kam ich auf FaulenzA, Berliner Singer-Songwriter-Rapperin und Straßenmusikerin, deren Name mir erstmals in einer Ankündigung für den Grether’schen Literatur- und Musiksalon „Krawalle und Liebe“ auffiel.
https://www.springstoff.de/artists/faulenza/
http://faulenza.blogsport.de/ueber-mich/
Ich dachte, „wie geil, eine Frau namens FaulenzA ist doch die perfekte Interviewpartnerin zum Thema Faulheit.“ Tja, nur ist FaulenzA als Person und Konzept weit weniger schlicht gedacht als meine Idee, und sie hat verdammt viel zu tun, was nach wenigen Minuten am Telefon klar wird. „Der Name FaulenzA stammt noch aus meiner Punkzeit im Ruhrgebiet, wo ich aufgewachsen bin. Mir war schon früh klar, dass ich im normalen Arbeitsleben keine Chance habe.“ Noch früher ahnte sie, dass sie ein Mädchen und kein Junge ist: „Als Kind hatte ich noch kein Konzept dafür. Meine Familie konnte mit diesem Thema nichts anfangen, die hatten ihre eigenen Probleme.“
FaulenzAs erstes Album „Mäuseanarchy“ – noch sehr von der Straßenmusik mit Gitarre und Akkordeon geprägt – erschien 2012, die aktuelle Platte „Wunderwesen“ im Herbst 2018 auf Springstoff, mit den Gaststars Sookee, Finna, Haszcara, Carmel Zoum, Lady Lazy und Riva, die auch in den Videos auftauchen, die Beats stammen von LeijiOne. Wie in ihrer Zeit als Straßenmusikerin sei ihr am HipHop wichtig, dass man zwar einerseits allein Musik machen kann, aber sich jederzeit Freund_innen und Fans anschließen können. FaulenzA macht nicht nur Musik (solo, aber auch mit den Punkbands Der Müll der letzten Tage und Crusty Schimmelfahrt), sie schreibt auch Bücher und gibt Workshops zum Thema Trans*misogynie. Ende August war sie in Berlin bei „Schule ohne Rassismus“ dabei, zusammen mit Rod von den Ärzten, Dota und Alex von Wizo, kurz danach trat sie auf einer Kundgebung gegen Abschiebehaft in Paderborn auf – faul? Allerhöchstens aus gutbürgerlicher Perspektive…
Ihr Coming-out als Transfrau, Unsicherheiten und Diskriminierungserfahrungen thematisiert FaulenzA seit ihrem zweiten Album “Glitzerrebellion”; in den letzten Jahren ließ sie mehrere geschlechtsangleichende Operationen durchführen, über die sie offen spricht. Sie ist eine freundliche und geduldige Gesprächspartnerin, der man anmerkt, dass sie häufig Dinge erklären muss: „Was cis bedeutet, weißt du, ja?“ FaulenzA verortet sich als Queerfeministin, doch (auch in Berlin) gibt es keine einheitliche queere Szene, die gemeinsame Ziele oder so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner verfolgt.
Ich frage sie, ob sie Patsy l’Amour La Loves Buch „Beißreflexe“ (querverlag) gelesen hat, in dem verschiedene Autor_innen Kritik an „queerem Aktionismus, autoritären Sehnsüchten und Sprechverboten“ üben. FaulenzA bekundet, am liebsten leichte Romane zu mögen, und dass das, was sie über „Beißreflexe“ gehört habe, sie bisher nicht dazu gebracht habe, es selbst zu lesen. Aber grundsätzlich ist es natürlich wichtig und richtig, über unterschiedliche Sichtweisen zu sprechen, „man kann ja nicht immer an alles denken“, sagt sie – und beweist mal wieder große Toleranz gegenüber denjenigen, die mit voller Absicht nicht an alles denken (wollen). Oder aus Nachlässigkeit unsensibel sind, so wie ich: Letztens fühlte ich mich sehr ertappt, als ich ein Interview mit FaulenzA las, in dem sie den Vulvakult von (Radikal-)Feministinnen anklagt, der Transfrauen ausschließe: „Ich verstehe schon, dass cis-Frauen durch Vulvakunst und Menstruationsworkshops empowern wollen. Aber es ist schwierig, über rein körperliche Merkmale Gemeinschaften zu bilden und Transfrauen abzusprechen, einen weiblichen Körper zu haben.“
Mitte August, beim FLINT-Camp in Neubrandenburg (FLINT* steht für Frauen, Lesben, inter, non-binary, trans*) führte beispielsweise ein Vulvakissen-Nähkurs zu Konflikten – die dann so gelöst wurden, dass Genitalkissen genäht wurden.
Apropos Camp: Dass FaulenzA keineswegs nur unter zumindest theoretisch Gleichgesinnten auftritt (also preaching to the converted), sondern auch sehr gern dorthin geht, wo es unangenehm werden kann, zeigte sie kürzlich mit einer Straßenmusik-Antifa-Tour durch die Sächsische Schweiz und Mecklenburg-Vorpommern, komplett mit Draußen-Übernachten: „wir wurden natürlich auch angepöbelt, aber es gab vor allem positive Reaktionen!“ (Fotos und Videos dazu auf FaulenzAs Facebook-Seite)
Ach, wenigstens einen Link zu meinem Faulheits-Vorurteil gibt es doch: Als Reaktion auf die Forderung rechtsextremer Parteien, „Arbeit zuerst für Deutsche“ entwarf FaulenzA diesen schönen Aufkleber:
Keep on keepin on!
Christina Mohr