Corona / Covid-19 – Mode & Hygiene

Frei nach Sido: Wir und unsere Masken

Vielleicht hätte es der Mund- und Nasenschutz in einer luftigen Variante mit einem Hauch von Orient (also weniger Fetisch oder Steam Punk) auch ohne eine Pandemie zum Erfolg gebracht; eine halbe Saison angetrieben durch die Initiative von Designern, Marken und Influencern; ein Trend, der irgendwo auf einer Straße, auf einem Laufsteg oder auf Instagram begonnen und seinen Endpunkt in einem Zehnerpack für drei Euro auf dem Grabbeltisch bei Kaufland gefunden hätte – direkt neben den Slips und Sportsocken. Dazwischen hätte es einige Dos and Donts zur Diskussion gegeben.

Gründe für den Erfolg wären ästhetischer Natur gewesen. Der „Schönheitseffekt der Abweichung“ wäre als Argument herangezogen worden. Es gelte eben nicht mehr, was schön ist, sondern was Individualität und Aufmerksamkeit schafft (wie beispielsweise die vom Maison Martin Margiela “Artisanal” 2012 zur Haute Couture ernannten Maske – siehe Video). Anti-Mode oder die Fragmentarisierung des Körpers wären historische Beispiele gewesen. Nach Jahren, in denen jedes Körperteil zur Berühmtheit gelangen konnte wie so manche Gesäß-Inszenierung, rückte das Gesicht wieder in den Fokus, dessen Präferenz bestimmter Gesichtsproportionen bis zu jenem Moment zeitlos erschien. Durch den flüchtigen Masken-Trend war damit Schluss. Wer auffallen wollte, musste verbergen – so raffiniert, wie es eben möglich war; an Orten, wo es eben möglich war.

 

Nun ist es doch eine Pandemie, die zur Durchsetzung des Mund- und Nasenschutzes außerhalb von Medizin, Sport oder Straßenkampf führt – gefördert von einer erzwungenen kollektiven Präferenz und guten produktionstechnischen Möglichkeiten. Die Auswahl ist daher vielfältig und groß:
Schnöder medizinischer Mund- und Nasenschutz in Babyblau?
Die High-Tech-Variante aus Asien mit einem integrierten Ventilator?
Lieber eine Batterie selbst genähter Masken, die farblich zur Bekleidung passen? Mit Schriftzug, Designer-Logo oder auffälligem Muster und Formen etwas wagen?
Pures Understatement mit einem gewickelten Stück Stoff?

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von MASK-ON (@maskoncollective) am

Trotz allem ist das Tragen der vielen Stoffe und Prints kein befreites (Identitäts-)Spiel mit der Verhüllung und des Verbergens, wie es unter anderem Pop-Künstler*innen nutzen – von Augenklappen (David Bowie, Madonna) über den Einsatz von Haaren (Sia) oder Kordeln aus Metall oder Stoff, die von einer Mütze baumeln (Prince, Goat) bis hin zu Vollmasken jeder Art (unter anderen The Residents, Bucket Head, Sido, Boris Brejcha, Kanye West etc.), Helmen (Daft Punk) und Gestricktem (Pussy Riot). Die Gefahr ist zu nah. Der Eingang in die Standardausrüstung des mobilen, urbanen Westlers, wie es zuvor zahlreiche Kleidungsstücke aus Militär, Arbeit und Sport geschafft haben, ist aufgrund der Pandemie-Erfahrung dennoch möglich. Bei Bedarf eben.

Zudem sind Mode und Hygiene vorher schon einen Schulterschluss eingegangen, wie die Puderbegeisterung und das Tragen von Leinenhemden in Renaissance und Barock gezeigt hat. Aufgrund der panischen Angst vor Krankheiten, dessen Ursache im Wasser gesehen wurde, wurde auf das Waschen verzichtet: durchschwitzte Leinenhemden wurden ständig gewechselt und die Puderquaste gegen den Geruch auf Haut und Haar geschwungen. Dazu wurde das Gesicht stark geschminkt. Künstlichkeit als Zeichen von ‚Sauberkeit’. Doch puderverkrustete Gesichter stehen wie das Tragen eines Mund- und Nasenschutzes für eine noch unbeantwortete Frage.

Skulptur „Professor Gosset“ von Raymond Duchamp-Villon Foto: CC BY-SA 4.0

Weil sich jedoch viele Fragen erübrigen, wenn man sie vergisst, schlüge die Stunde der völligen Gewöhnung. Oder wird ein stetes Unbehagen beim Blick ins Gesicht mit Mund- und Nasenschutz bleiben, wie es auch bei der 1917 entstandenen Skulptur „Professor Gosset“ von Raymond Duchamp-Villon entstehen kann?
1916 als Soldat an Typhus erkrankt, wird der Künstler ins Militärspital von Mourmelon verlegt, wo ihn eben jener Professor Gosset betreut, der ihm bald Modell steht. Beim ersten flüchtigen Blick auf die monolithisch glatte Skulptur aus Bronze erscheint sie wie ein humanoides Wesen oder wie etwas tierisches. Was ist das? Es ist ein menschlicher Kopf mit tiefen Augenhöhlen und einem merkwürdigen konkaven Untergesicht – anstatt Mund und Nase.

Stefanie Roenneke

 

 

 

 

 

Verlagssitz
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop | Aquinostrasse 1 | Zweites Hinterhaus, 50670 Köln | Germany
Team
Herausgeber & Chefredaktion:
Thomas Venker & Linus Volkmann
Autoren, Fotografen, Kontakt
Advertising
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop
marketing@kaput-mag.com
Impressum – Legal Disclosure
Urheberrecht /
Inhaltliche Verantwortung / Rechtswirksamkeit
Kaput Supporter
Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop dankt seinen Supporter_innen!