Danielle de Picciotto & friends in conversation – Tanja Ries

Tanja Ries: “Die Künstlerin in mir hält Winterschlaf. Mal sehen was da noch kommt. 

 

Tanja Ries (Photo: Olad Aden)

Ich habe Tanja Ries Ende der 90iger im Nachtleben kennen gelernt, besser gesagt in Ihrem Nachtcafé. Wir wurden einander vorgestellt und ihre ruhige und bedachte Art fiel mir sofort auf. Viele Moderatorinnen oder MCs sind meiner Erfahrung nach oft aufgedrehte, fahrige Menschen die sich auf einer Bühne, egal welche, wegen Ihrer Extrovertiertheit sehr wohl fühlen. Tanja war genau das Gegenteil. Sie schien introvertiert, nachdenklich und liebevoll. Sowohl auf der Bühne wie auch im Backstage strahlte sie eine elegante Stärke und Verbindlichkeit aus die ich so noch bei kaum einem Nachtgespenst erlebt hatte.

Wir freundeten uns an und blieben in Kontakt, sowohl privat wie auch künstlerisch. Tanja war als Sängerin trotz Ihrer Zurückhaltung berauschend auf der Bühne, Ihre Texte und Musik, ungewöhnliche Soundmelodien, berührten das Publikum, aber obwohl man oft wegen Ihr in den Nachtsalon kam war es Ihre große Leidenschaft andere Künstler vorzustellen. Ihnen überließ sie, nach ein paar wunderbar vorbereiteten Worten, die Bühne. Lächelnd und unterstützend beobachtete sie dann die Performance von der Seite und kam klatschend zurück um die nächste vorzustellen. Ich beobachtete sie oft, berührt von Ihrer Fähigkeit, trotz eigenem Talent, andere so selbstlos erkennen zu können.

Nach ein paar Jahren rief sie an und fragte mich ob ich Lust hätte einen Workshop mit Mädchen von der Strasse zu machen. Dadurch lernte ich ihre neue Leidenschaft kennen: Gangway E.V. https://gangway.de/ ein Verein, der sich um Menschen auf der Strasse kümmerte und in dem sie mittels Musik versuchte Jugendlichen zu helfen.
Der Workshop den ich dann tatsächlich machte, war emotional extrem aufwühlend, denn die Mädchen waren so sehr vernachlässigt, dass ich kaum wußte wie ich ihnen als Künstlerin helfen sollte. Ich war damals viel auf Tournee, hörte aber weiterhin von Tanja und es schien, dass sie sich in diese musikalische Jugendarbeit immer mehr vertiefte. 2015 hörte ich dann, dass sie zusammen mit Gangway ein STREET COLLEGE gegründet hatte. Dieses College sollte Jugendlichen individuelles und selbstbestimmtes Lernen anbieten und verfolgte einen radikal bedarfs-,stärkenorientierten und eigenverantwortlichen Lernansatz. Die Herangehensweise war neu und ziemlich revolutionär. Seitdem beobachte ich fasziniert was die Institution mit vielen Teilnehmern auch musikalisch auf die Beine stellt und freue mich sehr Tanja Ries hier heute mit Ihrem unglaublichen Idealismus vorstellen zu können.

Danielle de Picciotto: Wie bist du zur Musik gekommen? Bist du Autodidaktin oder hast Du Musik studiert?
Tanja Ries: Irgendwie ist die Musik eher zu mir gekommen. Ich lebte noch in Süddeutschland und hab mich auf eine Anzeige einer Swing- und Jazzband gemeldet die eine Sängerin gesucht haben. Und die haben mich dann genommen. Diese Naivität, dieses Nicht-Wissen, hat mir oft geholfen. Ich hatte dadurch einfach keine Angst. Mein zweites Projekt war ein Jazz-Duo mit einem Kontrabassisten. Ich wusste ja nicht, dass es schwerer ist nur mit Bass zu singen – und durch ihn hab ich dann das Real Book und die Weihen der Improvisation und Kommunikation in der Musik kennengelernt.
Mittlerweile war ich schon in Berlin gestrandet. In den frühen Neunzigern. Ich habe angefangen meine eigenen Lieder zu schreiben. Text und Musik.Und habe immer das gelernt was ich gerade gebraucht habe.
Ich hatte über all die Jahre das Glück immer mit großartigen Musiker*innen zu arbeiten und eine tolle Band zu haben, so, dass aus den Rohdiamanten mit denen ich in den Proberaum kam dann die tollen Stücke wurden die wir später auf Konzerten gespielt und auf CDs gepresst haben.

Du bist eine wunderbare Sängerin – was versuchst du mit deiner Musik auszudrücken?
Hättest du mich das vor ein paar Jahren gefragt, hätte ich wahrscheinlich sowas wie „Gefühle müssen raus“ gesagt. Oder: „Nicht ich suche mich in der Musik auszudrücken, sondern die Lieder finden mich.“ Da ich seit einigen Jahren nicht mehr schreibe und performe kann ich mit ein wenig Abstand auf all das schauen was ich im Leben schon so gemacht habe. Heute sag ich: Was mich immer interessiert hat, das ist die Kommunikation. Die Vorstellung, dass wir in diesen Momenten des Miteinanders nicht alleine sind. Das wir mit unseren Emotionen nicht alleine sind. Und das wir alle gut sind so wie wir sind. Vielleicht ist das Trost und die Möglichkeit der Verwandlung? Oder des „so-seins“? Ich glaube das ist ein Teil meines Talentes: Durch mein „Zeigen“ anderen die Möglichkeit und den Mut zu geben dies auch zu tun. Worte zu finden, in denen sich andere finden können. Was ich liebe, das ist der Moment in dem ich mich verliere (das Ego), mich mit allem verbunden fühle und gleichzeitig vollkommen bei mir bin.

Ich kenne dich von dem Nachtcafé – wie ist dieser Salon entstanden?
Tanjas Nachtcafé entstand 1995 im Bunker. In der Zeit, in der jede*r der eine Idee hatte die eben einfach umgesetzt hat. Der Bunker galt damals als der „härteste Techno-Club der Welt“ und in einem Nebengebäude, dem Ex-Kreuz-Club, in den gerade mal so 50 Leute reingepasst haben, fanden jede Nacht Elektro- und SM-Parties oder dubiose Cabaret-Abende statt. Als Dr. Seltsam die Sonntagsveranstaltung nicht mehr gemacht hat habe ich das Nachtcafé begonnen. Ich wollte eine Show in der auch Platz war für leise Töne, für schräge Töne, für Unerwartetes ist. So stand ich dann fünf Jahre lang jeden Sonntagabend als Gastgeberin auf der Bühne. Erst im Ex-Kreuz-Club, dann in der Kalkscheune. Es war auf jeden Fall eine aufregende Zeit. In der Trompete und später im Aufsturz gab es dieses Format, abgewandelt, dann noch einmal.

YDu warst künstlerische Leiterin des größten Chansonfestival Deutschlands – wie ist das entstanden und wonach hast du Musiker/innen dafür ausgesucht?
Ich habe das Chansonfest-Berlin 2005 von Boris Steinberg übernommen. Gegründet wurde es 1996 von Gunnar König, Schall und Hauch, Boris Steinberg.
Es war mir immer wichtig an die musikalischen Grenzen des Chanson zu gehen, bzw. sie zu erweitern. Wo fängt Chanson an? Wo hört es auf? Das fand ich spannend. Ich war auf der Suche nach Musik die bewegt. Nach Persönlichkeiten, die hinter den Lieder stehen, die etwas auslösen. Unikate sind. Es ging mir auf jeden Fall nie darum gefällig zu sein.

Seit wann bist du ihm Street College tätig? Was ist der Grund Gedanke davon?
Im STREET COLLEGE bin ich seit seinen Anfängen, auch seine gedanklichen, involviert. 2013 gab es eine Veranstaltung die quasi den offiziellen Startschuss markierte. Um die Jahrtausendwende herum hatte mich die künstlerische Arbeit mit jungen Menschen, die Kulturelle Bildung, gefunden. Seit dem ist der Träger Gangway, Straßensozialarbeit in Berlin e.V., mein Zuhause. In seiner Haltung und seinem Blick auf die Menschen.
Ich habe bei Gangway u.a. einige Musical-Projekte begleitet und viele Kolleg*innen aus der Sozialarbeit kennen gelernt. Und viel von ihnen gelernt.
Was uns auffiel ist, dass viele jungen Menschen in Projekten, in Settings, in denen sie ihren Interessen nachgehen und für die sie sich selbstbestimmt entscheiden, über sich hinauswachsen. Und das dies oftmals die selben jungen Menschen sind denen reguläre Bildungseinrichtungen bescheinigen würden, dass sie nix können. Oder wenig. Oder irgendwie nicht das richtige.

Für uns war klar: An den jungen Menschen kann es nicht liegen. Also liegt es am System. Und so haben wir uns gefragt: Was für ein Setting brauchen junge Menschen um mit Begeisterung und Freude lernen zu können?
Wie ist es möglich die Prinzipien von Gangway – selbstbestimmt, bedarfsorientiert, freiwillig und hin zur Eigenverantwortung – im Bereich des Lernens, der Bildung zu verwirklichen. So entstand, durch viele gemeinsame Lernprozesse, die Idee des STREET COLLEGE. Eine Plattform bei der die Studierenden (alle jungen Menschen am SC sind Studierende) selbst bestimmen WAS, WIE, WANN und mit WEM sie lernen wollen. Das heißt, die Studierenden äußern einen Bedarf – und wir suchen diesen Lernbedarf zu ermöglichen. Im Laufe der Zeit sind dadurch Kurse entstanden von denen manche jetzt schon seit mehreren Jahren stattfinden wie z.B. Modedesign, Freies Design, Filmproduktion, Elektronische Musikproduktion oder das LernLabor.  Im LernLabor bereiten sich Studierende auf Schulabschlüsse vor wie den BBR oder, seit neuestem, auch den MSA. Oder kommen einfach weil sie für eine bestimmte Fachrichtung Nachhilfe brauchen. Im Moment nimmt die Zahl der Studierenden hier stark zu. In den künstlerischen Bereichen ist der Bereich Musik sehr vielfältig geworden. Gesang, Songwriting, Klavier, Künstlerisch basierter Audio Engineer, Musiktheorie … und es kommt immer wieder was Neues dazu.
Jetzt, inmitten der Pandemie, ist ein “Stimme & Mediation“-Kurs entstanden oder einer indem sich die Studierenden über ihre kreativen Prozesse und Blockaden austauschen. Alle Studierenden haben auch die Möglichkeit sich, abseits ihrer Fachkurse, mit sich selbst zu beschäftigen. Selbstreflexion. Die eigenen Stärken erforschen und erkennen.Und wir haben eine Sozialarbeiterin die ein offenes Ohr für all die Nöte und Sorgen hat die es eben so gibt.
Ganzheitlich und stärkenorientiert.
Seit zwei Jahren haben wir auch eine Homebase. Räume in der Graefestraße in Kreuzberg in der sich alle, disziplinübergreifend, über den Weg laufen. Da sein können. Oder auch einfach mal rumhängen. Eine Runde Tischtennisspielen oder miteinander grillen. Zumindest wenn keine Pandemie ist.

Wie finanziert Ihr das College?
Zu Anfang hatten wir immer mal hier und da für einzelne Fachbereiche eine Finanzierung und Gangway hat uns quasi Mitgetragen. Im September diesen Jahres (2021) läuft nun unsere dreijährige Finanzierung der Skala-Stiftung aus. Diese hat uns sehr viele Entwicklungen, unter anderem auch die Anmietung der Location, ermöglicht. Aktuell sind wir also händeringend auf der Suche nach öffentlichen und privaten Finanzierungsmöglichkeiten um das STREET COLLEGE für die jungen Menschen erhalten zu können. Mein Eindruck in der Pandemiezeit ist: Nie waren solche Projekte wichtiger als heute. Wie wir alle gerade erleben zeigt die Pandemie uns einem Brennglas gleich die Schwachstellen unserer Gesellschaft auf. Dazu gehört leider auch Armut, mangelnde Chancengleichheit, eine zunehmende Bildungsungerechtigkeit, eine Bildungssystem, das in vielen Teilen noch immer sehr defizitorientiert ist und wenig Raum für die Entfaltung der Einzelnen lässt.
Die Folgen sind noch gar nicht absehbar. Es scheint nur als seien Jugendliche und junge Erwachsene irgendwie die „vergessene Generation“.
Letztens sagte ein Jugendlicher zu mir: „Eigentlich sollte das doch die beste Zeit unseres Lebens sein. Und jetzt hängen wir allein zuhause rum und wissen nicht wie es weiter geht.“ Ich plädiere sehr dafür, wenn wir das Virus im Griff haben, jungen Menschen Freiräume zu ermöglichen wieder zu sich zu finden. Anverwandlungsräume. Räume, im weitesten Sinn, in denen sie ohne Druck herausfinden können was sie interessiert und wie sie leben wollen.

Was für eine Rolle spielt Musik für Jugendliche? 
Musik kann, für junge Menschen, ganz viele Rollen spielen. Sie kann Ausdruck von Zugehörigkeit sein. Und Ausdrucksmittel. Sie kann ein Filter sein, ein Ventil und ein Rausch in den man sich begeben kann. Sie kann Begleiterin sein und Berufung. Sie kann Austausch und wortlose Kommunikation sein. Meditation und Gebet und die Luft zum Atmen sein.

Tanja Ries (Photo: Olad Aden)

Was denkst du könnte aus Senatsebene noch besser gemacht werden in Bezug auf Jugendliche & Musik?
Ich würde mich freuen wenn auf Senatsebene die Bereiche Jugend (Soziales), Bildung und Kultur mehr miteinander denken und agieren würden und somit die jungen Menschen und ihre Anliegen in den Mittelpunkt stellen.
Es gibt in den letzten Jahren, gerade im Bereich der Kulturellen Bildung, auch für Jugendliche die Chance z.B. niedrigschwellig Gelder für Projekte zu beantragen. Das ist gut. Das ist temporär.
Insgesamt brauchen junge Menschen mehr Teilhabe, mehr Räume, die ihre Räume sind. Über die sie schalten und walten können. Jugendzentren, Proberäume … all das. Und Zeit in der sie nicht unter Druck stehen.

Was sind deine Zukunftspläne (Sowohl deine als Künstlerin als auch für das Street College)?
Die Künstlerin in mir hält Winterschlaf. Mal sehen was da noch kommt.
Sobald das Infektionsgeschehen es wieder zulässt werden wir auf jeden Fall eine rauschende STREET COLLEGE GALA zelebrieren, Kunst machen wie die Wilden und hoffentlich feiern, dass das STREET COLLEGE eine langfristige und stabile Finanzierung hat.
Grundsätzlich ist es mir wichtig, dass Bildungsprozesse den Menschen dienen und an ihnen und ihren Persönlichkeiten ausgerichtet sind. Dass wir die Erkenntnisse aus der Pandemie in ein konstruktives Neues verwandeln. Dass wir einen wohlwollenden stärkenorientierten Blick aufeinander haben und es mehr Freiräume gibt sich selbst zu entdecken, zu reflektieren und zu entfalten.Wohin mich all das führt, das weiß ich noch nicht. Es gibt Pläne unsere interne Fortbildung „Trainer*in für (kulturelle) Bildung“ zu öffnen … aber erstmal bin ich froh, wenn das STREET COLLEGE sicher steht.

Wie und wo kann man das Street College unterstützen?
Auf unserer Website kann man Spenden: Sowohl einmalig, oder eine Spende verschenken, als auch regelmäßig, und so Teil des Freundeskreises werden.
Wir freuen uns ebenso über jede politischen Unterstützung, über wilde Ideen und sind auch netten und coolen Millionär*innen nicht abgeneigt wenn sie was an die Gesellschaft zurückgeben wollen oder einfach nur „Gutes tun“.

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