Ana Lua Caiano „Ich hatte diese ganzen Ideen im Kopf, die sich dann zu meinem Sound zusammengefügt haben“
Aus deutscher Sicht nimmt Portugal immer noch eine nachrangige Rolle ein. Der Deutschen liebstes Urlaubsland, Spanien, teilt sich zwar mit Portugal die iberische Halbinsel, doch Portugal selbst taucht erst auf Platz 19 der Reisecharts auf. Nur einer der Gründe, warum man hierzulande kaum mehr über die Republik weiß als das die Hauptstadt Lissabon heißt, der bekannteste Sportler Christiano Ronaldo und man dort grünen Wein trinkt.
Dabei gibt es viel mehr zu entdecken als bloß Fußball und Wein, man denke nur an die Sängerin Nelly Furtado, deren EM-Song „Forca“ – also doch auch Fußball-Bezug, wie soll es anders sein? – 2004 den Sommer über aus allen Lautsprechern schallte. Er hatte eine eigenwillige DNA, die sich aus folkloristisch-geprägten Rhythmen und einem ebenso traditionellen Instrumentarium zusammensetzte; angereichert um typische Sounds dieser Ära war ein Radio-Hit geboren. Doch genügte es damals nicht, damit sich Musik-Interessierte oder gar der Mainstream tiefergehend und profunde mit portugiesischen Traditionen auseinander zu setzen wagte.
Seitdem war es bisher lange still um die melancholische Volksmusik des Fado, um die portugiesischen Spielarten des Tropicalismo oder etwa den spezifischen HipHop des ehemaligen Kolonialstaates. Allein in der Nische der elektronischen Tanzmusik konnte der Kuduro – ein synthetisierter Tanz, der erst in der ehemaligen Kolonie Angola populär wurde und dann vor allen Dingen in den migrantisch geprägten Stadtteilen der Großstädte Lissabon und Porto zum Soundtrack der Nächte wurde – Spuren hinterlassen. Sowohl die Band Buraka Som Sistema als auch das brutal gute Label Principé hatten daran ihren Anteil.
Das alles könnte sich schon bald ändern: Amalia Rodrigues und Ana Moura haben in den letzten vier Jahren eine größere Öffentlichkeit, auch außerhalb Portugals, vom Fado überzeugen können. Bei den beiden Sängerinnen kommt er als moderne, elektronische Version seiner selbst daher. Diese Entwicklung öffnete sodann auch einer jüngeren Generation die Türe, deren jüngste Künstlerin Ana Lua Caiano heißt.
Die 1999 geborene Caiano versucht sich nicht an einer Interpretation des Fado, das wäre ihr zu fad. Stattdessen kann man auf ihrem Debüt-Album „Vou Ficar Neste Quadrado“ ganz andere, spezielle, eigene Synthetisierungen erfahren und entdecken. Denn Caiano geht auf eine Schatzsuche, die sie in die Dörfer des Festlandes und der Inselgruppe um Madeira führt, dort nämlich, wo das Liedmaterial Jahrhunderte alt ist und vor allen Dingen nicht-schriftlich, sondern im Gesang überliefert wird.
Diese altertümlichen Sounds, Rhythmen und Instrumentalisierungen bringt sie gleichwohl in Kontakt mit den Bass-Fundamenten und Avant-Pop-Songs ihrer Vorbilder Björk und Portishead.
Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop: Deine Musik zeigt sich von verschiedenen Methoden der Klangkonstruktion und -produktion beeinflusst: Du nutzt elektronische Synthese und Sampler, auf der Bühne arbeitest du mit einer Loop-Station und spielst alles live ein, dazu singst du, spielst unterschiedliche Percussion-Instrumente etc.
Gibt es ein Instrument, dass du ursprünglich gelernt hast?
Ana Lua Caiano: Ich habe mit sechs Jahren angefangen, Piano zu lernen – an einer kleinen Musikschule. Danach habe ich dann eine richtige Ausbildung am Klassischen Klavier begonnen; später kam ich auf eine Jazz-Schule, die nach den Jazz-Hot Clubs der 1920er benannt ist. Dort habe ich dann vermehrt die Stimme meine Stimme trainiert und später sogar (Jazz-)Gesang studiert. Ich überspringe jetzt einige Phasen und kommen ins Hier und Jetzt: Heute ist mein vorrangiges Instrument meine Stimme.
Auf deiner Debüt-Platte „Vou Ficar Neste Quadrado“ spielt traditionelle und folkloristische portugiesische Musik eine bestimmende Rolle. Wie kommt es dazu? Gibt es eine persönliche, private Connection, die dich zu dieser Musik brachte? Ich denke an sowas banales, wie eine Großmutter, die stets am Bett ein Schlaflied gesungen hat oder so …
Das ist ein schönes Bild, aber meine Connection kam über Alben, denen ich begegnet bin, die mir wichtig wurden, die ich viel gehört habe. Für mich ist, zum Beispiel, „Zeca“ Afonso einer der wichtigsten Einflüsse. Zeca hat mit einigen anderen in den 50er und 60er Jahren angefangen, sich der portugiesischen Folklore zuzuwenden. Es war bis dahin Musik, die lange nur oral-tradiert war und keine Aufzeichnung genossen hat.
Zeitgleich dazu wendete man sich in der ehemaligen portugiesischen Kolonie Brasilien den Sprachen der Indigenen zu; das passierte innerhalb der Bossa und dann vor allen Dingen im Tropicalismo. Die Künstler*innen, die sich da verdient machten, wie Gilberto Gil sind heute nicht nur Stars, sondern Volkshelden. Wie sah das in Portugal aus?
In gewisser Weise ähnlich. Während in Brasilien eine Militärjunta herrschte, hatten wir bis 1974, bis zur Nelkenrevolution, eine Diktatur in Portugal. Jemand wie Zeca war dann einer, der sich den ursprünglichen Musiken zuwandte – aus Protest gegen die Diktatur. Diese und seine klassischen Protestlieder führten mehr oder weniger direkt zur Revolution von 1974. Ich muss deswegen nochmal einhaken zu der Frage eben: Die Alben, die ich hörte, die mir die Musik des alten Portugals näherbrachten, die hörte ich natürlich erstmalig bei meinen Eltern und meinen Großeltern. Also es gibt da eine familiäre Prägung. So wie fast bei allen Portugies*innen. Wir wachsen damit auf.
Deinen eigenen Klang hast du dann über Umwege entdeckt? Oder gab es da direkte Linien?
Als ich mit der Komposition eigener Lieder anfing, benutzte ich diese alten, traditionellen Referenzen und die Harmonien, die mir so vertraut waren. Ich versuchte jetzt keine traditionellen Lieder nachzuspielen, aber die Inspiration war deutlich und auch deutlich zu hören. Man muss wissen: Portugiesische Volksmusik hat ganz spezifische Rhythmen und Harmoniefolgen, die es so eigentlich an keinem anderen Platz der Erde gibt.
Ich hatte mich gefragt, ob es vielleicht auch Field-Recordings a la Alan Lomax gibt, die sich mit der portugiesischen Musiktradition beschäftigt haben. Ist dir da etwas bekannt oder hast du dich damit länger beschäftigt?
Bei uns sind das die Aufnahmen, die der französische Musikethnologe Michel Giacometti gesammelt hat. Er fuhr durch Portugal und hat sehr viel, auch in ganz kleinen Dörfern, aufgenommen. Dabei entstanden so bekannte Kompilationen wie “Cantos E Ritmos De Trabalho Do Povo Português” oder einzelne Sammlungen zu bestimmten Regionen wie “Algarvo” oder “Minho”. Es gibt heute sehr viele Archive zur traditionellen Musik Portugals, die man besuchen kann. Darüber hinaus gibt es noch das Projekt “A música portuguesa a gostar dela própria” (das bedeutet in etwa “Portugiesischen Musik gefällt sich selbst”, Anmerkung des Autor). Das Projekt wird von einem Mann namens Tiago Pereira vorangetrieben, der Musiker*innen und Menschen aufnimmt, wie sie Lieder ihrer Vorfahren und Ahnen aufnehmen – Lieder, die sonst bald verloren gehen würden. Das sind ganz wichtige Inspirationen und Quellen für mich.
Dieser gesellschaftliche Diskurs zum kulturellen Erbe Portugals beschränkt sich ja nicht allein auf das Festland, sondern auch auf die Inseln, wie Madeira, und zudem auf die ehemaligen portugiesischen Kolonien. Ich denke da etwa an ein Label wie Príncipe, das angolanischen Kuduro und moderne Clubmusik verschränkt. Zumindest, was diese Art der Synthetisierung (volkstümliche Musik und basslastige Clubmusik) angeht, erkenne ich eine Ähnlichkeit zu deiner LP.
Erstmal muss ich Dir zustimmen, dass wir in Lissabon eine besondere Connection zu der Musik der ehemaligen Kolonien haben. Es kommen dort und in anderen großen Städten die Communitys aus Brasilien, Angola, Kapverden zusammen – die Musik ist dadurch sehr präsent. Und dann ergeben sich eben diese Kreuzungen, wie zum Beispiel bei Buraka Som Sistema.
Die innerhalb des Baile Funk-Hypes in den Nuller Jahren rezipiert wurden, dabei aber vor allen Dingen den eben beschrieben Kuduro-Trend losgetreten haben.
Genau. Aber das ist schon sehr lange her. (lacht) Ich bin zum Sound von Buraka Som Sistema aufgewachsen. Als ich die ersten Male in den Club gegangen bin, da liefen Baile Funk und Kuduro und Clubsounds nebeneinander.
Ich habe dennoch anders zu meinem Sound gefunden: Ich habe zwar schon länger nach einem musikalischen Ausdruck für die Ideen gesucht, aber Form haben sie erst während der Corona-Pandemie gefunden. Schon 2017 habe ich angefangen Workshops zu Synthesizern und elektronischer Musik zu besuchen, weil mich die technischen Möglichkeiten interessierten.
Wie kam es dazu?
Ich war vorher sehr in dieser Jazz-Welt und suchte nach anderer Musik. Ich bin dann bei Björk, Portishead und Laurie Anderson gelandet.
Nicht die schlechtesten Referenzen. Und dann kam die Pandemie?
Und ich hatte diese ganzen Ideen im Kopf, die sich dann zu meinem Sound zusammengefügt haben.
Glaubst du, dass eine Künstlerin wie Rosalia mit ihrer radikalen Modernisierung des Flamencos eine weltweite Öffentlichkeit für diese synthetisierten Volksmusik-Entwürfe geschaffen hat?
Tatsächlich kam Rosalia erst sehr spät in Portugal an, weswegen ich nichts über ihre Anfänge sagen kann. Aber ich erkenne jetzt eine gleichzeitige Bewegung in Spanien und Portugal. Denn bei uns gibt es Sängerinnen wie Ana Moura, die sehr erfolgreich den traditionellen Fado re-interpretiert und erweitert. Neuerdings kommen auch bei ihr elektronischer Sound und afrikanische Rhythmen hinzu.
Es gibt anscheinend ein großes Interesse die Vergangenheit zu erkunden und sie zu erneuern. Sowohl bei Rosalia als auch beim Belgier Stromae, aber auch in Portugal.
Wir sitzen hier gerade bei einem Festival, dem Babel Music XP in Marseille, zusammen, das früher noch den Untertitel “Forum für Weltmusik” getragen hat. Hast du ein Problem im Zusammenhang vom häufig ungeliebten Label „Weltmusik“ rezipiert zu werden?
Ehrlich gesagt, sind mir solche Labels zwar nicht egal, aber sie bedeuten mir wenig. In den Interviews zum Album kamen schon mehrfach Journalisten zu mir und haben mich auf ein Label oder ein Genre angesprochen. Da wusste ich oft gar nicht, dass ich da reingehöre. (lacht) Aber mal ehrlich: Ich habe kein Problem mit dem Begriff Weltmusik. Ich benutze ihn sogar, um meine Musik zu beschreiben. Ich finde den Begriff immer noch da passend, wo er eben beschreibt, dass sich jemand mit folkloristischer Musik einer Weltregion auseinandersetzt.
Was mich interessiert: Siehst du eigentlich deine Rhythmus-geladene Musik als Tanzmusik?
Ich denke meine Songs sind sowohl im Club als auch im Theater zu genießen. Das sind zumindest zwei Orte, an denen ich schon aufgetreten bin und es hat jeweils sehr gut funktioniert. Ich glaube, oder ich hoffe, dass meine Songs nicht eindimensional wahrgenommen werden. Meine Lyrics sind zum Beispiel sehr wichtig für mich, die sind nicht nur Dekorum. Meine Songs sollen sowohl auf der Sound- als auch auf der inhaltlichen Ebene fesseln. Aber … bitte: tanzt!
Deine Songs sind durch ihre Produktionsweise – du loopst deine Sounds live – modular aufgebaut. Sind deine Sets durchgeplant?
Ich habe immer die Möglichkeit live und im Moment Entscheidungen zu treffen. Das ist richtig gut. Wenn ich merke, dass Menschen auf einen bestimmten Klang oder einen Rhythmus besonders gut reagieren, dann verlängere ich die Tracks an der Stelle in real time.
Noch eine letzte Frage: Dein Video zu “Deixem O Morto Morrer” zeigt gleich mehre Frauen – und im Text geht es darum einen toten Mann zu beerdigen. Würdest du diesen Song als feministisch bezeichnen?
Ich weiß nicht, ob ich feministische Musik mache. Dieser Song ist eigentlich nicht so gedacht gewesen, sondern bezieht sich eher darauf, dass man einfach ein Kapitel abschließen soll und nicht ewig so weitermachen soll. Dann kam das Video und hat diese Zusatzkonnotation mit reingebracht, die ich aber sehr gut finde. Weil, und das ist der andere Punkt, ich singe schon über das spannungsgeladene Verhältnis von Frauen, die unter Männer leiden. Weißt du, wir haben in Portugal – klar auch in anderen Ländern in Europa – teilweise große Probleme mit häuslicher Gewalt. Das ist etwas, das ich in meinen Songs adressiere.
This article is brought to you as part of the EM GUIDE project – an initiative dedicated to empowering independent music magazines and strengthen the underground music scene in Europe. Read more about the project at emgui.de
Funded by the European Union. Views and opinions expressed are however those of the author(s) only and do not necessarily reflect those of the European Union or the European Education and Culture Executive Agency (EACEA). Neither the European Union nor EACEA can be held responsible for them.
Kaput is a proud member of the EM GUIDE network.