EM Guide – Interview

Die erfrischende Offenheit von Perfume Genius

Perfume Genius (Photo: Cody Critcheloe)

 

Mit „Glory“ hat Perfume Genius das bisher schönste Album seiner 15-jährigen Karriere aufgenommen. Die Platte, die am 28. März erscheint, ist emotionsgeladen, angenehm ambivalent und vor allem frei.

Kaput Autor Lennart Brauwers hat sich „Glory“ intensiv angeschaut – und Perfume Genius zum Interview getroffen.

 

Es scheint eine neue Lebenseinstellung zu sein, die Perfume Genius uns auf „Glory“ präsentiert. „My entire life, it’s fine“, heißt es voller Selbstsicherheit und -beruhigung – ein starker Kontrast zur ähnlich aufgebauten, aber deutlich ungewisseren Schlüsselzeile des 2020 erschienen Vorgängers „Set My Heart On Fire Immediately“ (das teils instrumentale Album „Ugly Season“ aus 2022 sollte eher als Exkurs betrachtet werden): „Half of my whole life is gone“, sang er damals, worin eher das Gefühl einer Midlifecrisis als von Zufriedenheit durchschimmerte. Dagegen wirkt die neue Zeile „My entire life, it’s fine“ wie der Beginn eines unbefangenen Kapitels, wie ein Stummschalten der eigenen Sorgen; vor allem auch, weil die drunterliegende Harmonie sich wohltuend auflöst, während die Worte „it’s fine“ aus dem Mund dieses überragenden Künstlers gleiten.

„Glory“ ist das siebte Studioalbum des 43-jährigen Mike Hadreas, der erst in seinen späten Zwanzigern mit dem Songwriting anfing; auch in die Rolle eines Live-Performers musste der schüchterne Hadreas erstmal reinfinden, als er 2010 zum gefeierten Newcomer wurde. Damals waren es rohe Pianoballaden, die frühe Platten wie „Learning“ und „Put Your Back N 2 It“ so herzzerreißend machten, doch von Album zu Album wurde Hadreas selbstbewusster, seine Musik als Perfume Genius opulenter. Man fragt sich also: Inwiefern passt „Glory“ zur bisherige Entwicklung seiner Karriere? Ist der darauf nun so selbstbewusst wie nie zuvor?

Selbstbewusstsein ist auf „Glory“ nicht mehr etwas, das vor allem durch Grandeur vermittelt wird, sondern klingt in der Freiheit und Offenheit der Platte an. „Ich hab nie gedacht, dass ich ein großes, episches Werk erschaffen will, und habe absolut nichts forciert“, erzählt Mike Hadreas im Kaput-Interview und verdeutlicht: Die Dinge einfach passieren zu lassen, das ist ebenfalls eine Form von Selbstbewusstsein. So wirkt die Gesangsmelodie im Opener „It’s a Mirror“ im bestmöglichen Sinne undefiniert, sie scheint sich im Laufe des Songs selbst zu finden. Dadurch, dass die Herangehensweise weniger zielgerichtet war, ist das Album noch ambitionierter geworden; weil so viel Raum gelassen wurde, schließlich passieren die spannendsten Dinge dann, wenn man gerade nicht hinschaut. „Can I move on without knowing specifics“, singt Hadreas – und gibt sich auf „Glory“ selbst die Antwort.

Perfume Genius (Photo: Cody Critcheloe)

Perfume Genius gehört zu jenen Acts, die viel wert darauf legen, für jedes Album eine neue, frische Welt zu erschaffen: „Jede Platte muss eine Perspektive haben, die sich von der vorherigen unterschiedet. Das Ganze würde mich nicht inspirieren, wenn nicht ein Hauch von Unbehagen und Ungewissheit, ob ich das alles auch umsetzen kann, mitschwingen würde.“

Zu einer neuen Perspektive gehört ein neuer Look – und der Style, den Perfume Genius für seine „Glory“-Ära angenommen hat, deutete auf eine tiefamerikanische Roots-Ästhetik hin: Lederstiefel, Blue Jeans, gegen Ende des Musikvideo zu „It’s A Mirror“ wird Mike Hadreas von Harleys umzingelt. Dieser Opener sowie das darauffolgende Highlight „No Front Teeth“ schienen mit ihrem Fokus auf Americana-Gitarren ebenfalls darauf zu verweisen, dass „Glory“ nun das Alternative-Country-Album von Perfume Genius sei; als würde Hadreas auf einen aktuellen, Country-affinen Trend im Indie-Rock aufspringen (siehe Waxahatchee, Wednesday, MJ Lenderman).

Doch ganz so einfach ist das nicht. Schon der dritte Song „Clean Heart“ bricht die Platte auf, hier treffen synkopierte Perkussivsounds auf „Ohhhh“-Refrains und, ähm, ein Glockenspiel. Diese Mehrdimensionalität ist essenziell und bei Perfume Genius immer schon vorhandene, schließlich gab’s zwischen den Pianolballaden des Debütalbums „Learning“ auch spirituelle Ambient-Flächen, und „Set My Heart On Fire Immediately“ war ebenfalls mehr als eine Hommage an Roy Orbison. Auf den Werken von Perfume Genius passiert seit Anbeginn sehr viel, sodass man nie zu schnell den Boden der jeweiligen Ästhetik erreichen konnte. Den neuen Vibe einer Platte klar zu gestalten, ist wichtig, dabei darf sie jedoch nicht zu schmal werden. Perfume Genius gelingt diese Gratwanderung jedes Mal.

„Diesmal hab ich alle Songs auf dem Klavier geschrieben, wie bei meinen ersten paar Alben.“ Songs wie „Me & Angel“ – eine herzerwärmende Liebeserklärung an seinen Lebensgefährten/Kollaborateur Alan Wyffels – erinnern tatsächlich an die pianolastigen Anfänge von Perfume Genius, doch im Vergleich hat „Glory“ eben nicht dieses Einsamkeitsgefühl, sondern klingt nach einer In-the-room-Zusammenarbeit mit anderen Instrumentalisten: „Bei den letzten paar Alben waren die Demos ziemlich ausgereift, als ich sie mit ins Studio brachte. Doch diesmal wollte ich meine Band mehr integrieren und etwas erschaffen, das sich komplett präsent anfühlt. Es ging mehr darum, zu schauen, was passiert. So sind die Songs gewissermaßen von selbst entstanden, ohne dass ich sie in eine bestimmte Richtung gelenkt habe.“

Außerdem ist „Glory“ die bisher deutlichste Repräsentation der intensiven Zusammenarbeit zwischen Mike Hadreas und dem Produzenten Blake Mills, für den die Sterne gerade gut stehen – denn im März erscheinen neben „Glory“ auch Alben von Lucy Dacus und Japanese Breakfast, an denen er maßgeblich beteiligt war. „Blake und ich sind grundverschieden, doch am Ende wollen wir das Selbe von den Songs. Unsere unterschiedlichen Herangehensweisen sind gerade das, was so gut funktioniert. Denn durch Reibung entstehen oft Dinge, die sich schön anfühlen“, kommentiert Hadreas bezüglich der intensivsten Musikpartnerschaft seiner Karriere. „Außerdem ist wie ein Familienmitglied für mich. Ich vertraue Blake komplett, seinem Geschmack und seinen Fähigkeiten.“ Hadreas vergleicht seine Kollaboration mit Mills mit körperlichem Training: Wenn du keinen Coach hast, der dich ständig pusht, lässt deine Risikobereitschaft irgendwann nach.

Perfume Genius (Photo: Cody Critcheloe)

Genauso wie es (glücklicherweise) nicht so simpel ist, die Klangästhetik von „Glory“ in eine Schublade zu stecken, ist auch die inhaltliche Ausrichtung ambivalent, von einem faszinierenden ‚Hin und Her‘ geprägt. „Es fühlt sich mutiger an“, sagt Hadreas einerseits über die Platte; nicht umsonst sind Textzeilen wie „I used to hide out for days, holding every note until it breaks“ – ein weiterer Kommentar zur Schüchternheit und Perfektionsbegierde des Künstlers – in der Vergangenheitsform geschrieben. Doch trotz des beschriebenen Selbstbewusstsein scheint das Gefühl, mehr aus sich rauskommen zu müssen, in den Lyrics durch und wird weiterhin durch den sentimentalen, leicht nervösen Vibrato-Gesang von Hadreas symbolisiert. „What do I get out of being established, I still run and hide when a man’s at the door“, singt er. Auch bei Album 7 wird Perfume Genius seine Unsicherheiten nicht los, was „Glory“ so angenehm menschlich macht.

Albumcover „Glory“

Diese Gegenüberstellung – positive Weiterentwicklung vs. hartnäckige Ohnmacht – wird ebenfalls im Kontrast zwischen Albumtitel und -cover deutlich. „Glory“ heißt die Platte, wodurch eine Art Triumph repräsentiert wird; wohingegen das Frontcover zeigt, wie Mike Hadreas im queeren Americana-Outfit am Boden liegt, scheinbar bewusstlos.

„Große Teile des Albums handeln von der Tatsache, dass gewissermaßen alles okay ist und es mir gut geht: Ich bin gesund, zahle Miete und singe vor Menschen“, erklärt Hadreas und weiß gleichzeitig, dass diese Positivität nur halb existiert: „Warum fühl ich mich trotzdem noch so ängstlich und denke ständig, dass ich an allem scheitern werde, obwohl ich mir schon mehrfach das Gegenteil bewiesen habe?“

Bei den Gesangsaufnahmen zu „Glory“ (und vor allem zum wundervollen Highlight „Left For Tomorrow“) hätte er gelegentlich weinen müssen, verrät Hadreas; das sei noch nie vorgekommen, obwohl er schon seit 15 Jahren tieftraurige Musik produziert. Bei weiterer Nachfrage, woran das liegen könnte, pausiert Hadreas erst – und findet dann eine Antwort: „Ich glaube es liegt daran, dass die Songs alle etwas herausfinden wollen, das ich selber noch nicht verstanden habe. Die Platte versucht ein verletzliches Gefühl freizulegen, das mich selbst total verwirrt.“

Der pulsierende Song „In A Row“ hat beispielsweise diese komplexe, hier fast schon paranoide Orientierungslosigkeit – „Locked inside a moving car, flopping in the trunk/Going through I think a tunnel, counting every bump“ – und thematisiert eine Kindheitsgeschichte von Mike Hadreas, die einiges aussagt. „Der Song handelt davon, wie ich als Junge in den Nachrichten sah, dass diese Kinder entführt wurden und man in einem weißen Lieferwagen verschiedene Polaroids von ihnen fand. Einen ähnlichen Lieferwagen sah ich in meiner Nachbarschaft, also lief ich durch die Gegend und hoffte, entführt zu werden. Ich glaube, weil ich die Geschichte wollte. Ich wollte die Entführung überleben und mit meiner Stärke und Widerstandskraft angeben.“ Das zeigt von einer Sehnsucht nach Extremen, die man im eigenen Leben vermisst; von einem Gefühl, dass die Geschichten des Alltags nicht ausreichen. „Think of all the poems I’ll get out“, singt Hadreas im Bezug auf die Möglichkeiten solch einer Story und weiß gleichzeitig, dass diese Denkweise totaler Quatsch ist. „Als ich älter wurde, ständig Party machte und Drogen nahm, war es ebenfalls so, dass ich vor allem eine verrückte Erfahrung machen wollte. Bis sich herausstellte, dass es einfach nur schlimm war. Man muss solche Dinge nicht erleben, um bestimmte Emotionen zu spüren.“ Der Song „In A Row“ macht sich also gewissermaßen über den Mythos lustig, dass nur Leid zu großer Kunst führen kann. Auf „Glory“ beweist er uns das Gegenteil: Dass man die Dinge einfach passieren lassen kann. „Es hat auch etwas Egozentrisches und Peinliches, sich die ganze Zeit darüber Gedanken zu machen, wie viel Angst man hat.“

Am Ende ist es die großartige Liebesballade „Me & Angel“, in der „Glory“ und dessen Kern deutlich werden: „If he’s an angel, he’s an angel“, singt Perfume Genius darin. Ja, das Meiste ist tatsächlich so schön, wie es auf den ersten Blick aussieht – und muss gar nicht überdacht werden.
„My entire life, it’s fine…“

 

 

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