Hans-Joachim Roedelius: „Ich bin tief verwurzelt in Klängen“
In diesem Jahr ist eine Musik-Ikone neunzig Jahre alt geworden: Hans-Joachim Roedelius, Mitbegründer der international bewunderten Bands Cluster und Harmonia, kann auf eine extrem umfangreiche Diskographie mit zahlreichen Soloalben zurückblicken. Auch wer über Krautrock spricht, kommt an ihm nicht vorbei. Der Autodidakt ist ein Pionier der elektronischen Musik, veröffentlicht aber schon länger auch Piano-Alben, die man als Neoklassik oder Ambient labeln könnte. Vor kurzem erschien von Roedelius anlässlich seines runden Geburtstags das Album „90“ mit bisher 50 unveröffentlichten Stücken.
„Es gibt noch reichlich viel, das ich nicht veröffentlicht habe“, erzählt Roedelius mir via Zoom. „Die Hälfte dessen, was ich insgesamt zur Verfügung habe, ist schon draußen – die andere Hälfte wartet noch auf eine Veröffentlichung“. Sein enger Freund Tim Story, ein Musiker aus Ohio, durfte die Archive sichten und hat aus ungefähr achtzig Stunden Audiomaterial, das sich auf zahlreichen Tonbändern und Kassetten befindet, das dreistündige Album kuratiert. „90“ enthält Musik aus – mindestens – vier Dekaden, vor allem Aufnahmen aus den späten Sechziger Jahren und den Siebzigern, aber auch Stücke aus den Achtzigern sowie nochmals später entstandene Klaviermusik.
„Ich habe sie mir noch gar nicht angehört“, gesteht Roedelius. Es sei eine regelrechte „Masse“ an Material, durch die Tim Story sich durchhörte. „Er hat gesagt: Was soll ich machen? Ich kann das nicht anders definieren, als jedem Stück eine Nummer zu geben.“ „90“ vermittelt einen Einblick in den Kosmos eines Ausnahme-Künstlers, der in Krautrock-Bands wie Cluster mit die Weichen für elektronische Musik in Deutschland gestellt hat, was man zum Beispiel im Stück „443 09“ gut raushören kann.
Der verspielte Sound weist zudem eine meditative Note auf, nicht nur hier hat sich ein technisch bedingtes Grundrauschen in die Musik eingeschrieben. Bei Roedelius gab und gibt es (fast) nie eine sterile Studioqualität – gerade das sorgt für intimes Flair. Eine Albumreihe von ihm entstand auch schon mal bei offenen Fenstern, die Umwelt wurde gewissermaßen Teil der Musik. Auch das entfaltet eine vertraute Klangatmosphäre, die vieles auf „90“ auszeichnet. „Es ist ja in einem familiären Kreis entstanden. Die Familie war immer in der Nähe – die Natur, in der wir in Blumau lebten, sowieso. Ich bin sehr naturverbunden, ich könnte nicht mehr in der Stadt leben“, erzählt Roedelius. Die familiäre Stimmung der Musik wird etwa in „TB6 35 49“ deutlich: Hier hört man Roedelius mit seiner Tochter spielen, das Kinderlachen wird später von einer harmonischen Melodie untermalt.
Die Farfisa-Orgel war damals sein „Haupt-Instrument“. Außerdem hat er gelegentlich Gitarre gespielt, mit einer analogen Rhythmus-Box und Synthesizern gearbeitet sowie (sehr selten) auch gesungen. „Ich bin Autodidakt und hatte nie Musikunterricht. Ich kann immer noch keine Noten lesen und schreiben. Für die Art und Weise, wie ich arbeite, ist das auch nicht unbedingt nötig. Grönland (das von Herbert Grönemeyer gegründete Plattenlabel, Anmerkung von P.K.) hat mir den großen Gefallen getan und einen Teil meines Werks in Noten setzen lassen, das nennt sich „Drauf und dran“. So können nun auch andere Leute meine Musik spielen, wenn sie wollen. Das finde ich toll, Herbert Grönemeyer hat mir diesen großen Gefallen getan.“
Nicht nur Grönemeyer bewundert die Musik von Roedelius, sogar David Bowie soll Cluster und Harmonia intensiv gehört haben, es gibt sogar ein gemeinsames Foto von Roedelius und Bowie. Außerdem hat der britische Musikproduzent Brian Eno – auch das gehört zur Geschichte – Mitte der Siebziger mit den Bands von Roedelius in Forst gearbeitet, noch bevor der erste Teil aus seiner einflussreichen Ambient-Reihe entstand.
„90“ bietet neben tollen Synthesizer-Tracks, Instrumental-Musik mit Field Recordings auch einige Privataufnahmen: In „Moebi Speaks“ hört man Roedelius mit seinem früheren Bandkollegen Dieter Moebius über Musik sprechen und herumalbern. Der Einfluss von Cluster und Harmonia ist groß, manche sagen den Projekten sogar nach, Fundamente für Techno gelegt zu haben. Doch einen Masterplan verfolgten Roedelius, Moebius und Michael Rother (der unter anderem bei Kraftwerk sowie NEU! mitspielte) nie.
Auf die Arbeit mit Moebius angesprochen, sagt Roedelius: „Hinsetzen, ersten Ton spielen, loslegen, warten, ob was kommt oder nicht. Wenn es nicht kommt, aufhören und weitermachen“, lacht der frühere Mitgründer des berüchtigen Zodiak Free Arts Lab, ein Forum für experimentelle Live-Kompositionen Ende der Sechziger in West-Berlin. Gejammt und experimentiert habe man damals viel, erinnert sich Roedelius, jede:r sei dort willkommen gewesen. „Ich bin tief verwurzelt in Klängen.“ Auch seine Solomusik bestünde vor allem aus Improvisationen: „Es kommt einfach zu mir, ich kann es nicht herbeizaubern. Ich bin einfach geduldig und zerre nichts herbei.“
Roedelius, geboren am 26. Oktober 1934 in Berlin, kann aus einem bewegten Leben berichten. Er flüchtete aus der DDR und arbeitete unter anderem als Krankenpfleger. „Eine Zeitlang habe ich in Paris gelebt und bin im Élysée-Palast barfuß ein- und ausgegangen. Dort habe ich die Frau des Nationalratspräsidenten auf dem Wohnzimmertisch massiert.“ Ja, der Pflegeberuf habe seine Musik durchaus beeinflusst, sagt er. Tatsächlich evozieren viele Stücke Gefühle von Sanftheit und wirken kontemplativ, es gibt viele ruhige Arrangements. Das belegen auf „90“ schöne Klaviertitel wie „430 15“ oder das zwölfminütige „897 00“. Diese Musik kann in Trance-Zustände versetzen und nahm stilistisch teilweise schon die heute so populäre Neoklassik voraus, die ihrerseits wiederum Ursprünge in der Minimal Music hat (das Album „Tasten“ von Qluster, 2015 erschienen, sei an dieser Stelle ausdrücklich empfohlen).
„Wenn ich gerade nur auf dem Klavier spiele, arbeite ich am liebsten mit Resonanzen: Einen Ton anspielen, den abklingen lassen, den nächsten Ton hinzufügen“, erklärt Roedelius. Live werde dann mit Toningenieuren experimentiert. Manche Titel auf der H-Seite von „90“ erinnern mitunter auch an Ambient, was die facettenreiche Klangästhetik des Musikers nochmals unterstreicht.
Roedelius lebt nun schon sehr lange in Baden bei Wien, von dort ist er für das Interview zugeschaltet. Als ich ihn im November spreche, ist er schon wieder fleißig und mit einem anderen Projekt beschäftigt. Die Stadt Baden gab ihm anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Neunten Sinfonie von Beethoven einen Konzertabend in Auftrag. Mit Tim Story, der eine „wichtige Rolle“ in seinem Leben spielt, hat er 2022 noch ein Album veröffentlicht. Er tritt weiterhin live auf, in Clubs, manchmal auch in Kirchen, forscht immer noch mit Klängen und wartet auf die nächsten Eingebungen am Klavier. Roedelius lächelt: „Dieses reiche und vielfältige Leben, das ich leben durfte und das ja offenbar weitergeht, ist ein Geschenk Gottes.“