Zu Besuch bei Dark Entries Records in San Francisco

Heulen mit Josh Cheon

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Josh Cheon (Photo by Jonathan Forsythe)

„Es kommt mir zu Gute, dass ich Psychologie studiert habe“, gewährt mir Josh Cheon gleich zu Beginn unserer Zusammentreffens einen tiefen Einblick in den Arbeitsalltag seines Labels Dark Entries Records, mit dem er sich auf die Wiederveröffentlichung von Postpunk-, Industrial-, Disco- und Wave-Raritäten und -obskuritäten spezialisiert hat. Oft genug haben die von ihm kontaktierten Musikerinnen selbst schon längst vergessen, dass sie einst Musik produziert haben und leben bereits jahrezehntelang ein ganz normales bürgerliches Leben mit Familie und 9-to-5-Job, wenn das Telefon bei ihnen klingelt, nachdem Cheon sie nach langer Recherche ausfindig gemacht hat. “Ich erinnere sie oft an emotional nicht immer so einfache Momente”, berichtet er. “Da kommt es schon mal vor, dass wir gemeinsam heulen.”

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RS94109 im Tenderloin Viertel von San Francisco (Photo by Jonathan Forsythe)

Wir haben uns zum Gespräch im Büro von Dark Entries getroffen, das genau genommen ein fensterloser Lagerraum hinter dem Plattenladen RS94109 im Tenderloin Viertel von San Francisco ist. Und so wandert mein Blick sofort unbewusst die Regale entlang, ganz so, als ob bereits die Cover der Platten von Tranceonic, Savage Hymn oder Lives of Angeles mir all die Geschichten dahinter verraten könnten. Die ganz großen Dramen seien aber die Seltenheit, merkt Cheon an, und reißt mich aus meinem Tagtraum. Viel öfter wird dem Mittdreißiger schlichtweg skeptisch erwidert, ob er sich denn nicht verwählt habe, es könne doch nicht sein, dass sich nach all den Jahren wirklich noch jemand für die Musik interessiere. Im besten Falle geht es dann schnell, und man einigt sich auf ein Entstauben der Bänder, und der Wiederveröffentlichung steht nichts im Weg. Und wenn nicht, dann ruft Cheon eben noch ein paar mal an – er sei aus Leidenschaft hartnäckig, gibt er zu verstehen, und zudem Berufsoptimist –, und dann erscheint die Platte eben erst nach fünf Jahren, wie beispielsweise bei der Australischen Postpunk/Synthpop Band Severed Heads.

000000020022Zeitdruck kenne er nicht, zumal zwischendurch ja auch immer mal wieder Alben von aktuell aktiven Musikerinnen anstehen, wie beispielsweise von Helena Hauff, Red Axes und The Hacker, die zuletzt auf Dark Entries veröffentlichten.
Cheon betont, dass er es gut verstehen könne, wenn die MusikerInnen nicht sofort alles stehen und liegen lassen würden für seine obskure Anfragen, immerhin würden ja manche von ihnen mittlerweile zeitintensiven Jobs nachgehen. So sei beispielsweise der Sänger von Eleven Pond ein Computeringenieur in der Raumfahrt bei der NASA.

All diese Geschichten, die ihm auf dem Weg zur Wiederveröffentlichung begegnen und passieren, und all das, was er die Künstlerinnen aus Neugierde im Prozess der Zusammenarbeit fragt, das teilt Josh Cheon später in seinem Blog auf der Labelwebseite mit der Dark Entries Gemeinde, um es mal etwas pathetischer, aber dem Label und der ihm entgegengebrachten Verbundenheit der Fans angemessen gerecht, zu formulieren. Die Infos, Interviews, News und Bilder, die Cheon hier und auf seinen Social Media Kanälen teilt, zeugen von der unendlichen Leidenschaft, die ihn antreibt. Dass er selbst den Fan in sich erhalten hat, das schätzen die Fans des Labels sehr, denn es ist rar in einer an Zynismus leidenden Musikindustrie Branche, wenn jemand so ausgeglichen und freudig die Grenzen von Freizeit und Beruf im Namen der Berufung ignoriert.

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Josh Cheon (Photo by Jonathan Forsythe)

Der unvernünftige Wissenschaftler

Aber zurück zum Psychologie-Studium von Cheon, da die Geschichte dahinter zu gut ist, um sie nicht zu hören: „Ich war als Teenager geradezu besessen von dem Film „Das Schweigen der Lämmer“. Das ging soweit, dass ich die Dialoge transkribiert und mit Freunden den Film nachgespielt habe. Die von Jodie Foster gespielte FBI-Agentin Clarice Starling war eine Verhaltenswissenschaftlerin, also dachte ich mir, wenn das einen dazu befähigt, mit Hannibal Lector zu sprechen, dann will ich das auch werden.” Nun, das draus resultierende Studium der Biologie und Psychologie soll nicht zum Nachteil für Cheon gewesen sein. Denn auch wenn er schnell den Ablenkungen der Musikwelt (Campus-Radio, Praktika bei Plattenlabels wie DFA und 4AD statt im Biologielabor wie seine Mitstudierenden) erlag und mehr Zeit mit Platten als in den Vorlesungen verbrachte, absolviert hat er es dennoch erfolgreich und arbeitet bis heute die Hälfte der Woche im Labor. “Das ist zwar stressvoll”, führt er aus, “aber ich nehme so den ökonomischen Druck vom Label, da meine Miete über den Job gesichert ist. Amerika ist aktuell in keinem guten Zustand, da fühlt es sich nicht falsch an, wenn man eine Kranken- und Rentenversicherung hat.” Zumal die Arbeit im Labor meditativ sei ,und er während dieser viel über aktuelle Produktionen nachdenken könne.

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Josh Cheon beim Plattenchecken im RS94109 (Photo by Jonathan Forsythe)

Der Stress, den Cheon anspricht, kommt besonders daher, dass im letzten Jahr, bedingt durch die stetig steigende Wahrnehmung von Dark Entries, auch seine Dj Karriere angezogen hat. Während er bis dahin mehr oder weniger zum Spaß als Teil des Honey Soundsystems und hauptsächlich in San Francisco auflegt hatte, fliegt er nun regelmäßig um die Welt. In der Woche nach meinem Besuch zum Beispiel nach Amsterdam, für mehrere Sets im Rahmen des ADE Festival, und im Anschluss weiter nach London, Berlin, Barcelona, Lissabon… “Da ich eine wichtige Deadline im Labor habe, werde ich wohl unterwegs noch ein paar Auswertungen machen müssen”, ergänzt er lachend, aber das komme halt davon, dass er partout nicht auf die Worte von Jonathan Galkin und James Murphy habe hören wollen, die beiden DFA Labelmacher hatten ihm eindringlichst davor gewarnt, ein Label zu starten und ihm stattdessen zur Wissenschaftskarriere geraten. “Sie sagten zu mir immer wieder, dass ich mir das nicht antun solle. Als vernünftig denkender Mensch mit einem wissenschaftlichen Abschluss mache man doch kein Label auf!”
“Und eigentlich wollte ich das zuerst auch gar nicht“, führt Josh Cheon weiter aus. „Ich kaufte damals viele billige Platten, von denen ich wusste, dass sie viel mehr wert waren, um sie auf meinem Ebay-Konto weiterzuverkaufen. Eigentlich wollte ich das ausbauen und einen Plattenladen aufmachen.“

000000040011Der bekennende Fan von Wiederveröffentlichungen

Nun, da scheint dann was schiefgelaufen zu sein. Zu unserem Nachteil soll die Entscheidung von Josh Cheon aber nicht gewesen sein, statt eines Plattenladens ein Plattenlabel zu starten, ist er doch nun einer der wenigen vorbildlichen Akteure auf einem Terrain, wo es an schwarzen Schafen nicht mangelt. Im Gegensatz zu diversen Kollegen auf dem Feld der Wiederveröffentlichungen hält er den Markt nicht künstlich knapp, sondern presst seine Platten immer (und oft genug zum eigenen ökonomischen Nachteil) nach, so dass sie eben nicht auf Discogs oder Ebay zu absonderlich hohen Preisen gehandelt werden. „Wenn sich ein Label keine angemessen hohe Auflage leisten kann, ist es was anderes, aber generell find ich es nicht fair, wenn man eine rare finishe Tape-Veröffentlichung lediglich in einer 250er-Auflage presst, obwohl man weiß, dass diese sofort weg geht und die Platte dann für 40$ oder mehr gehandelt wird.“


Was aber nicht bedeuten soll, dass Cheon seine Probleme mit dem Hype um Reissues-Labels wie Music from Memory, Awesome Tapes From Africa und Minimal Wave hat. Nein, das störe ihn nicht. Im Gegenteil, er bezeichnet sich als „Fan von Wiederveröffentlichungen“. Sein Lieblingslabel ist das in Barcelona ansässige Domestica Records, außerdem schätzt er sehr die Reissues auf Labels wie Optimo und Secret Bones. Was ihn aber störe, seien all die Neupressungen von Platten, die man sowieso überall angeboten bekommt. „Wer braucht eine Wiederveröffentlichung einer Bruce Springsteen Platte, die man für einen Dollar auf jedem Flohmarkt finden kann? Die Reissue-Mentalität der Major-Labels stößt mir auf, denn sie sorgt dafür, das wir bei den Presswerken ewig warten müssen, nur da jemand unbedingt den Soundtrack zu einem Tom Cruise Film nochmals auf den Mark bringen muss.“ Ebenso nervt ihn die oft lieblose Vorgehensweise, was nicht selten zu schäbigen Artworks führt.

Ein gutes Stichwort, denn die visuelle Komponente spielt bei Dark Entries eine große Rolle. Zunächst wird immer der Versuch unternommen, so originär wie nur möglich zu arbeiten und die Rechte am Original-Artwork zu bekommen. Wenn das nicht klappt, oder wenn es gar kein Original-Artwork gibt, da die Musik bis dato nur als Demo öffentlich existierte, werden zunächst die Musikerinnen nach Photos oder sonstigem Input gefragt. “Ich bin bei der Auswahl bemüht, den passenden Look für das Entstehungsjahr zu wählen.” Dafür, dass am Ende trotzdem so etwas wie eine Label-Ästhetik existiert, sorgt die Dark-Entries-Chefdesignerin Eloise Leigh. “Sie schreit mich immer dafür an, dass ich die Kontinuität nicht im Blick habe und die Copyrightangaben und den Barcode immer in unterschiedliche Ecken platzieren will”, kommentiert Cheon lachend.

000000040004Alles neu im Osten
„Der Umzug hat mein Leben verändert“, antwortet Josh Cheon auf meine Frage, wie wichtig es für ihn gewesen sei, Mitte der Nullerjahre von der Ostküste an die Westküste umzusiedeln. „Ich war damals 25 und richtiggehend depressiv. Mein Job in einem Labor in New Jersey City war deprimierend. Klar bin ich regelmäßig nach New York reingefahren, um mit den DFA Leuten abzuhängen und tanzen zu gehen, aber einen Job in der City konnte ich nicht finden.“ Also zog er irgendwann mit nur zwei Koffern nach San Francisco. Ein echter Neustart: ohne Freunde, ohne Wohnung (er lebte zunächst in einer Art Hostel) – aber mit dem Herz am richtigen Ort, was zum damaligen Zeitpunkt in San Francisco noch Türen öffnete. „Die Stadt besitzt eine gute Musikcommunity, die sich gegenseitig unterstützt. Uns eint die Leidenschaft. Wir alle wollen gemeinsam unsere Fahne hissen. Das war in New York anders, dort versucht jeder immer den anderen zu überholen auf der Leiter nach oben. Aber das beginnt sich aktuell auch hier zu verändern.“ Womit er den Umbruch der Stadt unter dem Einfluss der Tech-Branche anspricht. „Es ist nicht immer offensichtlich, eher so ein Hintergrundrauschen. Aber wenn man sich im Restaurant bewusst umblickt, dann sieht man eigentlich immer mindestens eine Tech-Person, die sich über Data und die üblichen Themen unterhält. Sie haben die normalen Leute in San Francisco verdrängt. Im Mission Distrikt, seit jeher ein Alternatives Epizentrum, leben mittlerweile hauptsächlich Millionäre.“ Was sich auch auf Dark Entries direkt auswirkt. Während das Label früher alle zwei Monate eine Party veranstaltete, konzentriert man sich mittlerweile auf spezielle Anlässe, und auch die Honey Soundsystem Partys haben mit dem demographischen Wandel, den die Preisentwicklung in der Stadt mit sich bringt, zu kämpfen. „Es fällt schwerer, die Verbindung zum Publikum hinzubekommen.“

Zum Schluss unseres Gesprächs möchte ich wissen, ob er sich denn in der Rolle des Geschichtsumschreibers gefalle? Josh Cheon schaut mich zunächst irritiert an, dann winkt er heftig ab: „Nein, nein, nein – das klingt mir zu sehr nach Heldenepos!“ Wobei es ihn natürlich schon freue, wenn eine Band durch seine Arbeit zum ersten Mal wirklich Feedback zu ihrer Musik bekomme und plötzlich in regen Austauschprozessen mit Fans steht, oder gar, wie sehr oft im Roster von Dark Entries der Fall, wieder zusammen findet. Da sei er auch nicht ganz uneigennützig, schließlich habe er selbst Bands wie Severed Heads, Europa, Jeff and Jane Huson, Parade Ground und The Danse Society damals ja auch noch nicht sehen können. Wobei er anmerkt, dass nicht alle ihre alten, von ihm wieder aufgelegten Stücken dann auch spielen wollen, sondern lieber neues Material – aber das sei ja auch ihr gutes Recht.

Nach dem offiziellen Interview holen wir uns einen Kaffee im dem Labeloffice vorgelagerten Plattenladen RS94109 und stöbern gemeinsam die Regale durch. Ich spüre sofort den wachen Blick des Musikliebhabers und Sammlers an meiner Seite, seine Neugierde, welchen Platten mein Interesse gelten wird. Und als ich schließlich ein mir unbekanntes White-Label einer House-Maxi von Ryuichi Sakamoto sowie eine obskure Split-LP der zwei britischen Bands Thatcher on Acid und Watt Tyler kaufe, registriere ich einen zufriedenen Gesichtsausdruck bei Josh Cheon. Prüfung bestanden.

 

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