Joachim Spieths neues Ambientalbum „Ouisa“ lädt dazu ein, sich mit dem eigenen Inneren zu befassen

Joachim Spieth: Dein persönlicher Lockdown

Joachim Spieth (Photo: Sandra Schürlein)

Als ich Joachim Spieth zum ersten Mal traf, war er noch ein Teenager. Thomas Venker und ich lernten ihn auf einer unserer Veranstaltungen kennen –wir betrieben damals das Label onitor, das Fanzine Harakiri und legten viel zusammen auf –, und obwohl er deutlich jünger war, freundeten wir uns mit ihm an. Bald darauf debütierte er mit seiner “Abi 99”-Maxi auf dem damals neu gegründeten Label Kompakt aus Köln, das wenig später weltweit für Furore sorgte. Es gab viel internationale Presse, die den deutschen Minimal Techno feierte – darunter ein Artikel in „The Wire“. Mittendrin in all dem der Teenager Spieth.

Wer ihn damals erlebte, dem war schnell klar: Joachim ist niemand, der das nur zum Spaß macht, er hat eine Mission. Schon damals konnte er stundenlang über elektronische Musik dozieren. Und tatsächlich ist er einer der wenigen aus unserem damaligen Veranstalter -, Fanzine- und Labelumfeld, der bis heute ausschließlich von der Musik lebt und weltweit agiert. Mit allen Härten, die besonders in der jetzigen Phase damit einhergehen.

Bei Kompakt veröffentlichte er in der Folge mehrere 12″s, die sich stilistisch zwischen Techno und eigenwilligen House Interpretationen bewegten. In dieser Zeit entstand unter anderen “You Don’t Fool Me”, der zum Opener der ersten “Pop Ambient” Ausgabe 2001 ausgewählt wurde und aus heutiger Sicht wohl als erste Landmark seiner Ambient Musik bezeichnet werden kann.

Mit Ambient beschäftigte Joachim sich schon in ungewöhnlich jungem Alter, so jung wie vielleicht sonst nur Markus Guentner, mit dem ihn seit damals nicht nur der altersmäßig sehr frühe Eintritt in die Szene verbindet, sondern auch eine berufliche und persönliche Freundschaft. Auch auf seinem eigenen Label Affin sollte Ambient von Anfang an seinen Platz haben, entdeckt durch eigene Suche und durch erhaltene Demos. Affin bot nicht zuletzt auch ihm selbst ein Forum, um sich selbst konsequent weiter zu entwickeln.

Nachdem zwischendurch auf Affin bereits eine Ambient-Platte Güntners erschien, zünden sie zwanzig Jahre nach dem Beginn ihrer Freundschaft die nächste Stufe – und kooperieren für einen Track auf Spieths neuestem Ambient-Album „Ousia“, das dieser Tage erscheint. Das Stück nannten die beiden dann auch prompt Mutuus – als Anspielung auf eine Symbiose, von der man vielleicht noch mehr hören wird.
Nach „Tides“ ist „Ousia“ das zweite puristische Ambient-Album von Joachim Spieth; es erscheint kurz nach seinem Beitrag auf der neuesten Pop Ambient 2021 („Libration“ – zusammen mit Pepo Galán). Während „Tides“ noch von einem kontinuierlich präsenten, nie abreißenden Soundteppich geprägt war – dem Bild konstant hoher Tiden folgend – geht „Ouisa“ einen Schritt weiter: Hier bewegt sich alles in Wellen, die anschwellen und wieder abflauen. Wie alles von Spieth lebt auch „Ousia“ von einer außergewöhnlichen klanglichen Brillanz – und auch hier kommt seine schon immer große Meisterschaft im Setzen von Filtern zum tragen.

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Die Wellen an Sound = Gefühl schwellen an, erreichen ihren Höhepunkt – und geben dem Hörer gleich darauf auch wieder Raum, um der Psyche einen sicheren Rückzugsort zu verschaffen. Und so wartet man konstant darauf, was als nächstes passiert. Ohne pathetisch klingen zu wollen: Ousia ist mehr als die Antwort darauf, was passiert, wenn sich die Tanzfläche geleert hat. Das Album macht Ambient zu einem viel größeren Werkzeug als nur zur Begleitmusik fürs Runterkommen. Es kann einen Hörer, der reif genug ist, im Gegenteil sogar richtig draufschicken – vorausgesetzt man hat Lust, eine wenig in seine eigene Seele zu schauen.
Das Düstere verbindet sich hier mit dem Hellen – die nebelverhangenen Landschaften lichten sich regelmäßig –, und in Form eines mit viel Hall belegten Klavierakkordes reißt die Wolkendecke auf und der klare Blick auf die Schönheit der Landschaft (oder der eigenen Seele?) wird frei.

Joachim Spieths Musik (auch seine sehr deepen Techno-Tracks) konnte man schon immer als psychoanalytische Muster sehen. Wer sich darauf einlässt und keine Angst hat, der kann mit “Ousia” auf eine tolle Reise ins eigene Ich gehen. So kann ein Track hier während seiner Dauer die verschiedensten Bilder und Zustände evozieren: Aus dem Unbekannten und Unbewussten wird Vertrautes, in die Unsicherheit hinein schiebt sich mittels eines befreienden Akkordes plötzlich die Erkenntnis, dass man die Reise nun heldenhaft beendet hat und als Phoenix aus der Asche der nebulösen Flächensounds aufsteigt.

Obwohl die Musik nie anstrengend oder unangenehm ist, empfiehlt es sich doch, sie nicht einfach nur so nebenbei zu hören – es sollte besser keine Nuance in Nebengeräuschen verloren gehen. Die Spannung steigt tatsächlich mit genauem Zuhören. Am besten ist wirklich, man nimmt sich Zeit, legt sich mit dem Kopfhörer ins Bett und beamt sich in seinen eigenen Lockdown weg. Dann wird es spannend, wie jeder die unterschiedlichen klanglichen Ankerpunkte der Tracks für sich individuell rezipiert:
In welche Welt träume ich mich hinein?
Bin ich am Meer?
Im Wald?
Ist es eine südliche oder eine nördliche Landschaft?
Kommt der Polarfuchs um die Ecke – oder ein Schäfer aus Arkadien?
Und für manchen ist es vielleicht die leere Fabrikhalle am Ende des letzten Raves, an den sie/er sich noch erinnern kann – und dann geht plötzlich die Sonne hinter dem verdreckten Fenster auf. Ich persönlich habe tatsächlich schon lange keine Ambientmusik mehr gehört, bei der ich innerhalb jedes Tracks so gespannt war, wie es weitergeht. Und es muss ja schließlich weitergehen.

Markus Koch im Januar 2021

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