Kaput revisited featuring Phil Collins – Filmpremiere im HAU4 (HAU Hebbel am Ufer)

»Bring Down The Walls« – Zwischen Gefängnis & Dance Floor

Phil Collins »Bring Down The Walls« (Photo: Mel D. Cole, Courtesy Shady Lane Productions / Phil Collins / HAU)

 

Am 25. Mai findet auf HAU4, der digitalen Bühne des HAU Hebbel am Ufer Theaters in Berlin, die Premiere der neuen Videoarbeit “Bring Down The Walls” von Phil Collins statt. Der Film beschäftigt sich mit der monströsen Gefängnisindustrie in den USA und denkt diese mit utopischen Reflektionen über den Dance Floor als Ort der persönlichen und kollektiven Befreiung zusammen.

Wolfgang Frömberg und Thomas Venker nehmen den Film zum Anlass, einen älteren Beitrag über eine Begegnung mit Phil Collins, der ursprünglich für die Printausgabe von Intro (Ausgabe 212) entstanden ist, wieder zugänglich zu machen. Anlass des Interviews war 2013 die Ausstellung »In Every Dream Home A Heartache« von Phil Collins im Kölner Museum Ludwig

»Bring Down The Walls« Premiere am Di 25.5.2021, 19:00 / HAU4

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Kaput revisited featuring Phil Collins: 

Der britische Künstler Phil Collins trägt einen popkulturell vorbelasteten Namen. Die Aufmerksamkeit, die er ihm beschert, lenkt er auf seine gesellschaftskritische Kunst, die antielitär den Kontakt zu den normalen Menschen als Ausgangspunkt nimmt. 

Kleinstädte neigen zum Tratsch. Das ist in Köln nicht anders als in Stuttgart oder Berlin. So erzählte man sich 2012, als der englische Künstler Phil Collins gerade frisch für seinen Lehrauftrag an der Kunsthochschule für Medien an den Rhein gezogen war, von seinem Antrittsbesuch auf dem Köln-Kalker Meldeamt und einem Beamten, der doch tatsächlich dachte, er hätte DEN Phil Collins vor sich, und dementsprechend fast ausflippte.
Darauf im März 2013 in einem Irish Pub in Domnähe angesprochen, lacht unser Phil Collins nur. Er hat sich an alle möglichen Anekdoten rund um seinen Namen gewöhnt. Unangenehm wird es zumeist mit Polizisten und anderen exekutiven Gewalten, die denken, er erlaube sich einen Spaß mit ihnen. Bei allen anderen und damit zumeist geht der Witz auf seine Kosten. Damit kann er aber gut leben. »Es ist ein großartiger Name. Ich wollte ihn nie ablegen, er garantiert das Interesse der Leute.«

Diese Aufmerksamkeit ist für den Künstler elementar, speisen sich seine Arbeiten doch aus der unmittelbaren Interaktion mit den Menschen. Aus dieser entwickelt er seine zumeist mit den Kunstformen Video und Foto betriebenen Forschungen über das Zusammelspiel von gesellschaftlicher Öffentlichkeit und dem Individuum. Collins erklärt das so: »Ich frage mich, wie man Kunst entwickeln kann, die nicht sofort nach Kunst aussieht. Was sie sein kann, wenn es nicht nur um Gemälde und Skulpturen geht. Meine Antwort: Kunst schafft Plattformen für Begegnungen, bei denen alles möglich erscheint.«

»Das Telefon sagt Du«

Von dieser Ambition zeugt auch seine nach einem Song der britischen Popband Roxy Music betitelte Ausstellung »In Every Dream Home A Heartache« im Kölner Museum Ludwig, die Mitte April Eröffnung hatte und für die Collins in Köln die zentrale neue Arbeit realisierte. »My Heart’s In My Hand, And My Hand Is Pierced, And My Hand’s In The Bag, And The Bag Is Shut, And My Heart Is Caught« ist das Ergebnis seiner Zusammenarbeit mit der am Kölner Hauptbahnhof ansässigen Überlebensstation für Obdachlose, Gulliver, bei der Menschen ohne festen Wohnsitz Möglichkeiten des sozialen Austausches, der Lebensberatung und hygienischen Pflege finden. Collins, der in den 90er-Jahren selbst in einer Sozialstation in London gearbeitet hat und der »sehr an den Fragen des Zusammenhangs zwischen wirtschaftlichem Zustand, Wohnungslosigkeit und der Art, wie Gesellschaften Zonen der Unsichtbarkeit entwickeln«, interessiert ist, hat dort ein Gratis-Telefon installiert. Mit diesem durften die Leute überall anrufen. Es gab nur eine Bedingung: Sie mussten einen Vertrag akzeptieren, der besagt, dass alles von Collins mitgeschnitten, anonym ausgewertet und für sein Kunstprojekt benutzt werden darf.
Die anfängliche Skepsis verebbte, nachdem Collins den Hintergrund seiner Arbeiten erläutert hatte und so eine Vertrauensbasis entstand. Letztlich nutzten 800 Anrufer das Angebot. »Das Telefon war quasi nonstop im Einsatz«, berichtet uns Collins merklich glücklich darüber. »Oft hatten sich die Leute lange nicht mehr zu Hause gemeldet, da sie es sich nicht leisten konnten, sodass es stundenlange Anrufe nach Rumänien, Polen, Bulgarien gab. Andere dealten am Telefon, stritten, suchten nach einem Job oder alberten einfach nur herum. Wir haben das Material transkribiert, übersetzt und die O-Töne Musikern zur Verfügung gestellt, die auf Basis der Soundsamples, Textfragmente und Images Stücke entwickelten.« Die 20 Tracks, die sich aus der Zusammenarbeit mit den 13 Musikern ergaben, wurden auf zehn Vinylsingles gepresst, die nun im Rahmen der Ausstellung in Hörkabinen zu vernehmen sind, die mit Blick auf den Hauptbahnhof im Museum aufgestellt wurden.

»Dance Me To The End Of Time«

Phil Collins interessiert sich seit jeher für das, was soziale Prozesse mit uns Menschen anstellen. Das Spektrum reicht von Kriegszuständen bis zum Konsumterror. So begleitete er für eine seiner wichtigsten Videoarbeiten, »How To Make A Refugee«, 1999 zwei Flüchtlingsfamilien inmitten der Kosovokrise in Mazedonien. 2002 veranstaltete er mit den »Baghdad Screen Tests« im Irak ein vorgetäuschtes Casting für einen Hollywood-Film in einem Land, das sich unter dem Regime von Saddam Hussein im Kriegszustand mit den USA befand. Und für »They Shoot Horses« organisierte er 2004 einen Tanzwettbewerb mit Palästinensern in Ramallah. Die beiden daraus resultierenden siebenstündigen Videoarbeiten beziehen sich auf die Novelle »They Shoot Horses, Don’t They« und stellen eine eindringliche Auseinandersetzung mit der zynischen Vermischung von individuellen Eskapismusstrategien und der fordistischen Disziplinierungsmaschinerie von Staaten und Systemen dar.
Collins’ Werk ist zwingend verbunden mit seinem Interesse an den politischen und sozialen Mechanismen unserer Welt. Er fördert im Rahmen seiner Arbeiten die Individualität der Menschen, weckt in ihnen den Mut, auffällig zu werden. Kritiker werfen ihm vor, dass er diese Menschen teilweise benutze, übersehen aber, dass der rote Faden, der Collins’ Werk prägt, ein zutiefst humanitärer ist. Collins kann die Vorwürfe nachvollziehen: »Es haftet solchen Projekten immer etwas von Ausbeutung an, wenn man die Fragen nicht klärt. Man muss erläutern, warum man in einem Land, in dem die Leute Waffen haben und das System sie unterdrückt, scheinbar Unterhaltung produziert. Wenn man es den Leuten aber näherbringt, dann öffnen sie sich.«
So suchte er etwa für seinen Turner-Prize-Wettbewerbsbeitrag »The Return Of The Real« Menschen, deren Leben durch Reality-TV-Shows kaputt gemacht worden ist. Aber eben nicht, um sie auszustellen, indem sie in der Tate Britain darüber sprachen, sondern um das Ganze mit ihnen und ihnen zur Verfügung gestellten Medienanwälten journalistisch und rechtlich aufzubereiten.

»Take The Skinheads Bowling«

Für Collins, der während seines Drama- und Englisch-Studiums in Manchester auch an der Garderoben-Bar der Acid-House-Keimzelle Hacienda Club gearbeitet hat, stellt Musik die elementare Basis seiner Arbeiten dar. Für »The World Won’t Listen« suchte er 2005 per Flyer, Radio- und TV-Werbung in der Türkei, Kolumbien und Indonesien nach Fans der englischen Popband The Smiths, die deren Songs vor seiner Kamera Karaoke performten. Aus diesem Filmprojekt entwickelte sich 2011 der 16-mm-Film »The Meaning Of Style«, dessen Titel sich auf das gleichnamige Buch des britischen Stil-Soziologen Dick Hebdige bezieht und der ebenfalls in der Kölner Ausstellung gezeigt wird. »Ich landete damals über das Smiths-Projekt in Kuala Lumpur in einer Skinhead-Disco. Das warf in mir die Frage auf, was einen malaiischen Skin ausmacht. Einige Jahre später bin ich zurückgekehrt und habe dort drei Kategorien Skinheads getroffen: antifaschistische, faschistische und stylishe – also die gleiche Trennungslinie wie bei uns in den 80ern.« Mit 19 antifaschistischen Skins zusammen entwarf Collins daraufhin einen fantasievollen Reflexionsreigen über den interkulturellen Transfer von subkulturellen Codes im Allgemeinen und das ganz spezielle Definitionsmachtverhältnis zwischen dem britischen Empire und seinem ehemaligen Kolonialland.

»How To Tell Yourself From A Television«

Die dritte in Köln gezeigte Arbeit, »This Unfortunate Thing Between Us«, fußt auf einer zweiteiligen Performance, die Collins 2011 für das Berliner HAU Hebbel am Ufer entworfen hat und die sich auf die britische TV-Show »TUTBU-TV« bezieht. Im Zentrum steht dabei ein Teleshopping-Kanal, in dem die gecasteten Schauspieler, unter anderem Julia Hummer und Sharon Smith von der Theatergruppe Gob Squad, echte Erlebnisse statt reguläre Konsumgüter anbieten. »Ich empfinde Teleshopping nicht als dumm, sondern als sinnvoll«, überrascht uns Collins beim zweiten Bier im Irish Pub. »Ich mag es, wenn Leute Handtücher verkaufen können, wünschte mir aber schon, sie würden stattdessen andere Dinge verkaufen.« Und so gibt es bei ihm beispielsweise ein Verhör durch den Geheimdienst zu erwerben, eine Rolle in einem historischen Porno oder die Chance, in einem Krankenhausbett zu sterben, nachdem man seiner Familie endlich gesagt hat, was man schon immer sagen wollte. Alles zum Einheitspreis von 9,99 Euro, natürlich mit Rabatt für Studenten und Arbeitslose. »Mir geht es nicht darum, Inszenierungen auf die Bühne zu bringen, sondern einen Beitrag zum Existierenden zu leisten, eine Einladung auszusprechen. Wenn die Leute da mitmachen, empfinde ich das als sehr anerkennenswert.« Präsentiert werden die Shows im Museum in zwei Wohnwagen, die auf Drehscheiben montiert sind.

»Piece Of Me«

Den Abschluss der Ausstellung bilden fünf Fotoarbeiten zu Britney Spears, kurz »Britney 1-5« betitelt, aus dem Jahr 2001. »Diese Bilder sind alle in New York entstanden«, erzählt Collins. »Es sind Plakate, die dort an den Wänden hingen. Sie sind wunderbar, auch wenn sie nicht alle wirklich schön sind.« Aber das ist glücklicherweise auch nicht das oberste Gebot in der Welt dieses, unseren Phil Collins. Stattdessen geht der Künstler dahin, wo es gesellschaftliche Reibeflächen und blinde Flecken gibt.

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