Kate NV: „Ich will keine Antworten geben, ich will Fragen stellen“
„Ich liebe Moskau und mein kleines Appartement in der Stadt – mein Zimmer ist eine Kammer, in der meine Seele lebt.“ In diesem kurzen Satz steckt viel drin von dem, was die Künstlerin Kate Shilonosova auszeichnet. Die 31jährige blickt mit stets neugierigen Augen auf ihre Umgebung, so gelingt es ihr in Details der Alltagswelt einzutauchen, die anderen verwehrt bleiben, und das dort entdeckte mit kindlicher Euphorie und ohne falschen Coolness-Panzer sich eigen zu machen, wobei bei allem spielerischen Zugang der Überbau nie zu kurz kommt.
Wer so offen und wissbegierig durch die Welt geht, der hat auch gelesen, geschaut und gehört, was andere vor einem als Spuren auf den Pfaden der Geschichte hinterlassen haben. Mit leuchtenden Augen betont Kate Shilonosova – wir befinden uns im Treppenhaus des Kölner Stadtgartens, wo sie später an diesem Dezember Abend im Rahmen des Week-End-Festivals auftreten wird – den großen Einfluss, den die Moskauer Konzeptionalisten um Viktor Pivovarov, Ilya Kabakov und Erik Bulatov auf sie ausgeübt haben. Von Pivovarov stammt die zwischen Alice-im-Wonderland-Phantasien und Surrealismus positionierte Idee, dass ein Zimmer nicht einfach nur vier Wände hat, sondern sich darin Raum und Zeit ausdehnen. Er dekonstruierte in seinen Arbeiten ausgehend von introspektiven Beobachtungen den Alltag im real existierenden Sowjetischen Sozialismus der 70er und 80er Jahre mit viel Ironie und dunklen Humor.
„Mein Zimmer mag schmal sein, aber zugleich ist es endlos groß“, fährt Shilonosova fort in der Beschreibung des für die Genese ihrer Musik so wichtigen Orts. Auch die zehn Songs auf „Room For The Moon“, ihrem neuen, dritten Soloalbum unter dem Imprint Kate NV sind größtenteils hier entstanden. War das Solodebut „Binasu“ (angeregt von einem Tokyo Aufenthalt im Rahmen der Red Bull Music Academy) gekennzeichnet von ihrer Begeisterung für (japanische) Popsongstrukturen, so verblüffte das instrumentale „для FOR“ im Anschluss mit dem (fröhlich denkbarsten) elektronischen Minimalismus. Auf „Room For The Moon“ finden beide Ansätze (und die Einflüsse ihrer Improvisationsband Glintshake und des Free-Folk-Ensembles Scratch Orchestra) in einem soft-dialektischen Prozess zusammen. Shilonosova operiert nicht mit Gegensätzen, sondern formt die unterschiedlichen künstlerischen Paradigmen und Praxen zu ihrem ganz eigenen, nicht real existierenden Weltbild.
„Room For The Moon“ eröffnet mit dem rhythmisch verspielten „Not Not Not“. Gerne liest man das Stück angesichts der aktuell grassierenden Corona-Apathie als Revitalisierungsimpuls. Bloß nicht mit runterreißen lassen vom omnipräsenten Pessimismus, sondern sich an den positiven Strängen des Lebens festhalten. „Not Not Not“ und das ebenfalls instrumentale „Du Na“ bilden das Glied zum Vorgängeralbum, bevor Shilonosova mit „Sayonara (Full Moon Version)“ bei „Binasu“ andockt – und zugleich mit großer Popsensibilität die Talking Heads und deren Konzertfilm „Stop Making Sense“ herbeizitiert werden, der für sie als Performerin von sichtbarer Bedeutung war.
Sich mit Kate Shilonosova zu unterhalten ist eine anregende Angelegenheit. Es begegnen einem nicht oft KünstlerInnen, schon gar nicht in diesem Alter, die sich so vehement mit der eigenen Rolle auseinandersetzen. „Nur weil man ein Instrument hat, heißt das noch nicht, dass man es immer spielen muss“, nutzt sie beispielsweise eine Frage nach ihrer speziellen Klangarchitektur als Ausgangspunkt für eine längere Ausführung. „Am Anfang möchte man immer Sounds machen beim Spielen, aber darum geht es nicht. Man muss zuzuhören, was die anderen machen und was bereits da ist. Musik ist wie eine Kommunikation – da gibt es auch Pausen, in denen die anderen sprechen. Es ist kein Monolog, das habe ich durch Kooperationen und Orchestermitarbeit gelernt.“
Von der Ausgestaltung des Zusammenspiels mit anderen MusikerInnen gleitet sie sofort weiter zur Beschäftigung mit den Klängen um sich herum: „Stille ist von oft unterschätzter Bedeutung. Als Musiker musst du sehr genau hinhören, was um dich herum an Klängen stattfindet. Wenn ich Zuhause bin, höre ich selten Musik sondern verbringe die Zeit lieber in Stille – aber Stille ist eben nicht die Absenz von Sounds, man hört Autos in der Straße, Wind in den Bäumen, es gibt soviel zu entdecken. Das macht mich glücklich.“
Interessanterweise empfindet Shilonosova selbst ihre Musik als abstrakt. Damit meint sie jedoch weniger die konkrete Klangausgestaltung sondern bezieht sich auf den inhaltlichen Überbau. „Ich produzierte keine Musik über die Russische Realität. Ich existiere zwar als Künstlerin im Kontext meines Heimatlandes – das sind Umstände, die niemand ignorieren kann –, aber die Art, wie ich Kunst kreiere, ist anders angelegt: ich will keine Antworten geben, ich will Fragen stellen. Bei Kunst geht es meiner Ansicht nach nicht darum die Sachen letztgültig zu erklären, sondern jene Fragen zu stellen, die die Leute dazu bringen, sich selbst mit der Welt zu beschäftigen und so die für sie gültigen Antworten zu finden.“ An dieser Stelle springt Shilonosova gedanklich zurück in ihr Zimmer in Moskau und zu einem für das Interior zentralen Stuhl, der in diesem Moment aber nur als Sprungfeder zum nächsten Gedanken dient. Sie berichtet welch großen Einfluss der kanadischen Komponisten Glen Gould auf sie hatte. Von diesem ist überliefert, dass er nicht sich als Spieler seiner Musik empfand, sondern seinen Stuhl. „Ich mag die Idee, dass er glaubte, er sei lediglich ein Medium, das die Musik transportiert.“
Zu diesem Bild der weichgezeichneten Autorenschaft passt sehr gut, dass man sich auf „Room For The Moon“ oft nicht sicher ist, in welcher ihrer drei Gesangsprachen (Russisch, Französisch, Englisch) Shilonosova gerade ihre Songs transportiert, oft wirkt es gar als ob wir einer vierten Sprache lauschen dürfen, jener Geheimsprache, die uns Zugang zu der Peter Pan-haften Welt von Kate Shilonosova ermöglicht.
Zum Schluss unseres Gesprächs betont Kate Shilonosova, wie wichtig sie Pausen in ihrem künstlerischen Alltag empfinde „Man braucht sie, um sich wieder aufzufüllen. Man kann Musik nicht immer zu aus sich heraus zwingen, man muss sie fühlen.“ Das passende Stück für die Corona-Pause hat sie uns allen als letztes auf „Room For The Moon“ zur Verfügung gestellt: „Telefon“. Der Song ist eine kleine Pophymne an das Sprechen auf Distanz, der man die Einflüsse von japanischer Popmusik auf Shilonosova deutlich anhören kann. Einerseits was den geradezu magisch dahingleitende Bewusstseinsstrom des Songs angeht, getragen von der sanften Gesangslinie und unterfüttert vom wunderbar hell angeschlagenen Xylophon im Dialog mit der federnden Synthiemelodie. Andererseits aber auch in der Verwegenheit, mit der sie ein grollendes Saxophon und Störgeräusche poppig-experimentell einbringt. Man möchte sofort in Moskau anrufen und fragen, wie man so einen Song schreiben kann. Die Antwort hat Kate Shilonosova aber bereits in Köln gegeben: „Musik macht was sie möchte – ich gebe ihr nur den Raum, dass sie sich ohne Druck entfalten kann.“
Thomas Venker
„Room For The Moon“ von Kate NV ist auf RVNG Intl. erschienen.
Der Artikel ist in einer modifizierten Version zuerst in der Print-Ausgabe der Kölner Zeitschrift Stadtrevue erschienen.