Nadin Deventer: „Durch verschiedene Welten tanzen und sie miteinander in einen Dialog setzen“

Art Ensemble of Chicago: Nicole Mitchell & Moor Mother; Jazzfest Berlin 2018 (Photo: Camille Blake)
Wenige Wochen vor der Eröffnung des Jazzfest Berlin 2025 herrscht im Haus der Berliner Festspiele eine erwartungsfrohe Anspannung. In einer der Garderoben, einem temporären Rückzugsort, weil ihr Büro bereits vom Logistik-Team des Festivals in Beschlag genommen wurde, hat sich Nadin Deventer zum Interview positioniert. Seit 2018 ist sie die künstlerische Leiterin des Festivals, die erste Frau in dieser Position in seiner über 60-jährigen Geschichte. Sie hat das traditionsreiche Festival mit einer Mischung aus kuratorischen Experimenten, gesellschaftspolitischer Dringlichkeit und einem tiefen Verständnis für die gemeinschaftsbildende Kraft von Musik neu aufgeladen. Während sie von dem „Leistungssport“ der letzten Vorbereitungswochen spricht, spürt man die immense Energie, die sie in dieses Projekt investiert.
Nadin, das Jazzfest Berlin, früher die Berliner Jazztage, ist eine Institution mit einer fast mythischen Vergangenheit. Wie empfindest du den Status quo eures Festivals in der heutigen, viel dichteren Festivallandschaft?

Nadin Deventer (Photo: Cristoph Neumann)
Nadin Deventer: Es ranken sich verschiedenste Mythen um das Jazzfest Berlin, und so ist es in meiner Wahrnehmung auch irgendwie immer noch. Als ich 2015 als Produktionsleiterin hier anfing, durfte ich Ihno von Hasselt ablösen, der nach 40 Jahren in Rente ging. Er war im Grunde so etwas wie das Gedächtnis und das Gewissen dieses Festivals, die einzige Konstante bei all den künstlerischen Leitungswechseln.
Durch die Jubiläumsfeierlichkeiten letztes Jahr, 60 Jahre Jazzfest Berlin, bin ich da noch einmal tiefer eingestiegen und habe zum Beispiel alte Aufnahmen gesehen aus den ersten Jahren, Mitte der 60er, noch in der Philharmonie. Die Berliner Jazztage gehören europaweit, inmitten des Kalten Krieges gegründet, ja zu den ersten ihrer Zunft. Und das dann direkt in die Philharmonie zu tragen, in die Hallen der klassischen Musik, die gerade erst ein paar Jahre vorher fertiggestellt wurde, inklusive der TV-Übertragungen, das war schon eine große und bahnbrechende Ansage.
Damals saß quasi die Nation vor dem Fernseher und hat sich Jazz angeguckt. Zur Prime Time um 20 Uhr, das muss man sich mal vorstellen. Und wer da nicht alles gespielt hat! Joachim-Ernst Berendt hatte eine große Vision und einen ganz weiten Kulturbegriff. Er hat das Festival von Anfang an mit einem sehr ambitionierten und globalen Anspruch gestaltet.
Auch heutzutage erfährt das Jazzfest Berlin immer noch eine große Aufmerksamkeit national und international und wird von seinem Publikum getragen. Die ARD und Deutschlandfunk Kultur sind nach wie vor die wichtigen Medienpartner und lassen das Festival mit Live-Übertragungen und der langen Jazznacht während des Festivals, aber auch mit vielen Sendungen mit Konzertmitschnitten danach weit über Berlin hinaus erlebbar werden. Dieses Jahr haben sich wieder über 130 Fotograf:innen, Journalist:innen und auch Kurator:innenkollegen, mitunter aus der ganzen Welt, angekündigt, um über und vom Festival zu berichten, was ich jedes Mal aufs Neue als ziemlich abgefahren empfinde und auch eine tiefe Dankbarkeit, überhaupt dabei sein zu dürfen. Und das Jazzfest ist nach wie vor ein wichtiges Netzwerk-Event für uns Berliner Akteur:inne, Musiker:innen und Veranstalter:innen und unsere internationalen Kolleg:innen.
Zu diesen Mythen gehört auch das berüchtigte buhende Publikum.
Nadin Deventer: Ja, das damals weltweit berüchtigte buhende Berliner Publikum. Da gibt es auch viele Mythen drum: Warum hat das jetzt gebuht? Wer hat da überhaupt gebuht? Das Tolle ist, dass Ihno von Hasselt von Anfang an dabei war und mir viele interessante Antworten geben konnte. Die Menschen im politisch aufgeladenen Berlin hatten damals wohl eine andere Vorstellung von „diesem Jazz“. Es haben außerdem immer nur einzelne aus Block B gebuht und lange nicht die ganze Philharmonie. Die Kuration war ihrer Zeit weit voraus und deckte ein riesiges Spektrum ab, mit dem nicht alle Zuschauer:innen klar kamen. Ohne Internet, ohne Handy interkontinental Commissions zu vermitteln oder ungewöhnliche Projekte zu initiieren … das kann man sich heutzutage doch alles überhaupt nicht vorstellen, wie damals Verabredungen getroffen wurden. Ihno von Hasselt hat berichtet, dass Briefe zwischen den Kontinenten über eine Woche lang unterwegs waren, und dadurch Missverständnisse entstanden, was für das Publikum dann auch spürbar war. Außerdem mussten doch alle erst einmal lernen, wie man ein so großes internationales Festival konzipiert und organisiert; vor dieser Pionierleistung kann man sich nur verneigen, finde ich.

2024, als Zeitzeugin mit Ihno von Hasselt beim Seminar „60 Jahre Jazzfest Berlin“ an der Universität der Künste Berlin
Du warst dann nicht nur die Nachfolgerin in der Produktionsleitung, sondern später als künstlerische Leiterin auch die erste Frau in einer langen Reihe von Männern.
Nadin Deventer: Bis zu meinem Beginn als Produktionsleiterin gab es im Organisationsteam keine Frauen mit finaler Entscheidungsbefugnis. Mit dem Generationswechsel setzte gleichzeitig ein Genderwechsel ein. Daran mussten sich alle erst gewöhnen, auch Manager, Agenten und Musiker, dass sie nun mit einer Mitte-Dreißig-jährigen Frau zu tun hatten, die tatsächlich das Sagen hatte, die nun verhandelte und auch die Deals machte. Gagen wurden lange Jahre in unserem Bereich bar ausgezahlt, und das Ganze vor, auf und hinter der Bühne war eine ganz schön krasse Männerwirtschaft. Mit vielen Gepflogenheiten haben wir aufgeräumt, es brach einfach eine andere Zeit an, mit der auch ein Paradigmenwechsel in der Art und Weise, ein Festival zu organisieren, eingeleitet wurde.
Wie wurde dein Antritt als künstlerische Leiterin 2018 aufgenommen?
Nadin Deventer: Sehr positiv und sehr negativ – beides habe ich persönlich stark zu spüren bekommen. Viele haben mich als erste Frau an der Spitze dieses traditionsreichen Festivals gefeiert, aber es ging auch einigermaßen heiß her hinter, aber teilweise auch vor den Kulissen im patriarchal geprägten Jazzdeutschland, , für das die Berufung einer Person wie mir der blanke Hohn zu sein schien. Und ja: Ich habe das Festival, wie ich es 2015 vorgefunden und kennengelernt habe, ziemlich kritisch gesehen und habe mich dann konsequent und von Anfang an getraut, an vielen Stellschrauben zu drehen und das Festival sichtbar verändert, als ich es seit 2018 auch künstlerisch gestalten durfte. Das fanden zum Glück ziemlich viele gut, aber einige halt auch nicht. Wir hatten, und dafür empfinde ich eine große Dankbarkeit, trotz des großen Umbruchs nie einen Zuschauer:innen-Einbruch, die Menschen in Berlin und auch das anreisende Publikum mögen sich teilweise verändert haben, das Festival ist aber auch seit 2018 konstant sehr gut besucht gewesen.
Ich möchte aber auch hier noch einmal betonen, dass ich diesen Job von Anfang an und immer noch mit großer Demut mache. Ich bin mir aus der freien Szene kommend meiner kulturpolitischen Verantwortung sehr bewusst. Außerdem ist es eine Riesen-Herausforderung, in einer Kulturmetropole wie Berlin, in der es im Schnitt 1.000 Kulturveranstaltungen am Tag gibt, ein Festival gestalten zu dürfen. Völlig zurecht ist die Erwartungshaltung an das Jazzfest Berlin, welches als Teil der Berliner Festspiele vom Bund gefördert ist, immens hoch. Mein Job ist es, die Szenen im Blick zu haben, lokal und international zu denken, ein attraktives Programm für das Publikum in Berlin zu schaffen und gleichzeitig auch die angeschlossenen ARD-Rundfunkanstalten und Deutschlandfunk Kultur und deren Bedürfnisse mit einzuplanen; teilweise also einen ganz schönen Spagat hinzulegen zwischen all diesen verschiedenen Welten und trotzdem und zuallererst so etwas wie „Relevanz“ und Sichtbarkeit zu erzeugen.

Sven-Åke Johansson „MM Schäumend – Ouvertüre für 15 Feuerlöscher“ beim Jazzfest Berlin 2022 (Photo: Cristina Marx)
Du hast im Gegensatz zu vielen Kurator:innen tatsächlich Jazzmusik studiert. Was hat das mit deinem Blick auf die Programmgestaltung gemacht?
Nadin Deventer: Die Frage ist, wie kommst du zur Musik und warum machst du das, was du tust? Ich bin in einem sehr musikalischen Haushalt groß geworden und habe in der westfälischen Pampa zufällig Menschen kennengelernt, von denen einige später tatsächlich Jazz studiert haben. Ich komme aus einem kleinen Ort, und in Ibbenbüren gibt es mit Pink Pop e.V. eine ambitionierte private Musikschule, die alle zwei Jahre einen deutsch-amerikanischen Jazz-Austausch organisiert hat. So bin ich da reingewachsen als Teenager, durchs Selbermachen. Ich habe dann selbst auch Musik studiert, empfinde mich aber als eine sehr mittelmäßige Sängerin. An der Musikhochschule in den Niederlanden habe ich mich dann dabei ertappt, dass ich zwei, drei großen Talenten geholfen habe, an Gigs zu kommen. Dabei habe ich gemerkt, dass ich einen riesigen Spaß daran entwickelt habe, sie zu puschen und zu unterstützen, sich zu zeigen.
Dein Weg war also nicht linear auf diese Position ausgerichtet.
Nadin Deventer: Überhaupt nicht. Ich habe auch Europawissenschaften in Paris, Amsterdam und Berlin studiert und war anderthalb Jahre im Bundestag, als Gerhard Schröder und Joschka Fischer noch in der Regierung waren. Ich habe dann sogar meine Masterarbeit für die Arbeitsgruppe Kultur und Medien geschrieben. Ich war also immer schon vielseitig interessiert und bin, glaube ich, jemand, der ganz gut in verschiedene Welten eintauchen und auch zwischen ihnen vermitteln kann. Ich kann Punk und versiffte Clubs genauso wie Bundestag und Berliner Festspiele, ohne dass ich mich verbiege. Ich fühle mich in beiden Welten wohl und gleichzeitig irgendwie fremd und schräg, wie fast überall.
Diese Zugehörigkeitsfragen, wer man jetzt sein will oder wen man darstellen will und in welche Welt man nun endlich gehört, habe ich mir zum Glück nie so richtig gestellt. Das gibt mir viel Freiheit, sodass ich im Idealfall das Gefühl habe, durch diese verschiedenen Welten tanzen und sie miteinander in einen Dialog setzen zu können

Nadin Deventer beim Check der Nebelmaschine für die Filmproduktion, 2025 (Photo: Chris Jonas)
Woher kam dann die Inspiration für deine kuratorische Arbeit? Gab es Vorbilder?
Nadin Deventer: Diese Begegnungen mit brillanten Menschen über Musik hat mich in den Jahren bis zum Abitur für mein weiteres Leben geprägt. Wir waren da so ein Haufen von 10 bis 15 Teenager:innen und konnten uns zum Beispiel in der Jugendkunstscheune der Stadt kreativ und DIY-mäßig ausprobieren und austoben. Meine erste Band war eine Mädchen-Punk-Band: Bautrupp Atlantis. Wir haben einen Schülerbandwettbewerb gegen die Donots (alle auch aus Ibbenbüren) gewonnen. Wir Frauen haben uns damals wegen unüberwindbarer Differenzen getrennt – die Jungs füllen immer noch Stadien. (lacht) Wir haben uns kleine Festivals, Musicals oder Theaterstücke ausgedacht, teilweise politisch, oder Hardcore-Trash, oft völlig improvisiert, durchgeknallt und echt verblüffend kreativ. Ich bin eigentlich immer noch überzeugt davon: Hätte das damals Anfang der 90er nicht nur in der tiefsten westfälischen Pampa stattgefunden, sondern irgendwo in Berlin, das wäre durch die Decke gegangen.
Das war mein Einstieg in die kreative Kulturarbeit, ganz natürlich, durchs Selbermachen, in Kollektiven, wirklich tolle, inspirierende Leute kennenlernen und zusammenbringen und diese Energie laufen lassen und spüren und dann einfach machen. Eigentlich suche und brauche ich das heute auch immer noch beim Jazzfest Berlin, kreative Verbündete, die Mauern einreißen und Grenzen verschieben wollen.
Diese Energie des Selbermachens scheint sich in deiner Herangehensweise an das Festival widerzuspiegeln. Du nimmst viele Risiken auf, setzt auf unbekannte Namen auf den großen Bühnen.
Nadin Deventer: Das ist nichts Leichtes, und ich leide leider auch wie ein Hund jedes Jahr, wenn ich diesen Prozess durchlaufe. Ich suche, stelle Fragen, ich versuche, mich nicht zu wiederholen und lasse mich eigentlich jedes Jahr auf neue Partner:innen und Themen ein, in die ich mich meistens komplett neu einarbeiten muss. Ich finde die Aufgabe, die mir anvertraut wurde, sehr groß, und ich weiß, wie privilegiert das Jazzfest dasteht. Ich versuche durch Zuhören und Recherche herauszufinden, was Spielräume für neue Ideen, Künstler:innen und Projekte sein können und habe dabei keine Pauschalformel.
Es ist ein hochdynamischer Prozess mit zig Wechselwirkungen, bei dem so viele unvorhersehbare Faktoren – neben dem künstlerisch-inhaltlichen ja auch noch Personal, Budgets, Spielstätten, Kommunikation, Fundraising, Deadlines etc. – zusammenkommen. Ich glaube, dass das Festival so, wie es nun ein paar Mal ganz gut funktioniert hat, ein Berliner Gewächs ist und so nicht automatisch in Köln oder im ländlichen Bereich daherkommen könnte. Deshalb ist es so wichtig, dass man als Festivalleiterin trotz der großen Verantwortung und des großen Drucks versucht, durchlässig zu bleiben, sich mit Haut und Haar auf einen Ort, die Menschen und auf eine Aufgabe einlässt, sich immer wieder hinterfragt und zurücknimmt, observiert und versucht zu verstehen: wo bin ich, was ist zu tun ist und wo wollen wir zusammen hin.

Peter Brötzmann beim Jazzfest Berlin 2022 (Anna Niedermeier)
Und was war in Berlin zu tun?
Nadin Deventer: Mir war es von Anfang an wichtig, das Jazzfest Berlin für alle Berliner:innen zu öffnen und die einzigartige kosmopolite lokale Szene Berlins mit ins Festival zu involvieren. Alle besonderen Projekte, die sog. Commissions, entstehen dialogisch mit Musiker:innen und Partner:innen aus Berlin und der Welt. Gleichzeitig versuche ich den Kanon des Festivals zu hinterfragen und um wichtige Stimmen aus der internationalen Szene zu erweitern.. Ich versuche für jede Edition ein Narrativ zu kreieren, das sowohl eine Einladung zur Debatte und Auseinandersetzung als auch Positionierung zu dem, was in der Gesellschaft, der (inter-)nationalen Musikwelt und der Stadt im jeweiligen Jahr passiert, ist.All das ist ziemlich komplex, und ich will nicht leugnen, dass ich in meiner Arbeit sehr viel mit mir und den vielen Entscheidungen, die ich zu fällen habe, ringe.
Ich habe ja auch eine große Verantwortung den Künstler:innen gegenüber, die wir schlussendlich einladen, aber auch denen gegenüber, die wir nicht einladen. Ich sage ja viel mehr Nein als Ja. Und wie begründet man jetzt seine Auswahl? Das mache ich zum Glück nicht alleine. Ich habe ein tolles Produktionsteam bei den Berliner Festspielen und mit Peter Margasak seit 2020 auch einen der profiliertesten Musikjournalisten an meiner Seite. Bei der Auswahl der Musiker:innen und Projekte interessieren uns neben der Ehrung der Hero:innen der improvisierten Musik insbesondere die avantgardistischen Stimmen,neuen Namen und Positionen und eher das Periphere, welches wir mit dem Festival dann für ein paar Tage ins Zentrum und Spotlight rücken können.
So ist das Jazzfest nach wie vor auch eine Einladung für Neuentdeckungen, von mitunter auch wirklich schrägem oder sperrigem Zeug, vor allem für eine so große Bühne im Festspielhaus mit über 1.000 Sitzen. Am Ende des Tages möchten wir bei allen Herausforderungen natürlich, dass alle eine so gut wie mögliche Zeit in Berlin verbringen und mit ein paar neuen Erkenntnissen wieder nach Hause fahren.

Start Proben Jazzfest Berlin 2023 mit den Kinder des Jazzfest Improlab, den Kinderchören und Musiker*innen des Eröffnungsprojektes „Apparitions“ und den Musiker*innen von Henry Threadgills Zooid aus New York und Potsa Lotsa XL aus Berlin (Photo: Camille Blake)
Ein zentraler Teil deiner Arbeit der letzten Jahre ist die Öffnung des Festivals über die traditionellen Spielstätten hinaus, in die Stadtteile, zu den Menschen. Stichwort Community Week.
Nadin Deventer: : Ja, wir arbeiten jetzt seit drei Jahren mit Kindern, Teenager:innen bis hin zu Senior:innen in sogenannten Outreach- und partizipativen Projekten auch in Communities außerhalb unserer Kunst- und Kultur-Bubbles. Hier geht es auch viel ums Brückenbauen, ums Zuhören. Wir wollen die Musik und die Kunst rauszutragen aus unseren Clubs und Theatern hin zu den Leuten und diese wiederum ins Festspielhaus einladen. Es ist mir ein Anliegen, dass die internationalen Künstler:innen, die auf den großen Bühnen stehen, sich auch dran beteiligen, damit diese Projekte eine selbstverständliche Interaktion und Erweiterung des Festivals werden können. Das bedeutet dann für die Musiker:innen viel mehr als einfach irgendwo einen Gig zu spielen, und ist auch für unsere Institution mitunter herausfordernd. Wir begeben uns alle auf unbekanntes Terrain und müssen uns darauf einlassen, sich zu hinterfragen und bewusst auch neue Wege der Zusammenarbeit und des Kulturschaffens zu entwickeln. Das bedeutet mehrere Monate des Suchens, des Dialogs und natürlich des Ermöglichens, des Fundraisings und der Projektentwicklung mit einer Vielzahl neuer Partner:innen.
Das klingt nach einem fundamental anderen Verständnis von Festivalarbeit, weg vom reinen Präsentieren hin zum Ermöglichen und Verbinden.
Nadin Deventer: Wichtig sind ein fundamentales Interesse an verschiedenen Lebensrealitäten und am Geschichten-Entdecken und Erzählen.Wir wollen die Menschen ins Zentrum der Projekte stellen, sie ernst nehmen und mit ihnen zusammen auf Augenhöhe Ideen entwickeln. Wir haben das 2023 einmal mit „Unlearning, Unteaching, Unclassifying“ umschrieben: Vergiss mal, wer hier wem was erzählt, wer der Sender und wer der Empfänger ist.
Es geht wirklich um das Miteinander, einen echten Austausch und darum, der gesellschaftlichen Spaltung etwas Verbindendes entgegenzusetzen. Und das geht manchmal verloren in unserem ganzen Zirkus, der so schnelllebig ist, auf dem so viel Druck lastet, erfolgreich zu sein. Und was ist Erfolg? Ist der Prozess wichtiger oder das Ergebnis? Im Idealfall geht beides sehr gut zusammen, aber es kann nicht immer funktionieren, wenn du dich wirklich ständig auf neue Menschen, neue Ideen und Themen und neue Orte einlässt. Das Scheitern scheint in unserer schnelllebigen neoliberalen Kulturwelt nicht (mehr?) vorgesehen, sollte aber eigentlich zur Kunst und Kultur dazugehören können.

Apparitions x Jazzfest ImproCamp for kids 2023 (Photo: Camille Blake)
Gab es ein Projekt, das gescheitert ist und dich heute noch ärgert?
Nadin Deventer: Klar. So einige haben das Licht der Welt nie erblickt – mindestens so viele wie die, die es auf die Bretter, die die Welt bedeuten, geschafft haben. Ich finde, wir sollten mehr und offener übers Scheitern sprechen und auch ehrlicher und transparenter über den oftmals konfliktbelasteten und steinigen Weg zur Realisierung ambitionierter oder neuer Projekte, weil man davon auch so vieles ablesen und lernen kann über unsere eigene Selbstverortung.
Aber ehrlich gesagt hat sehr vieles von dem, was wir uns ausgedacht und teilweise mit viel Anstrengung in großen Zusammenhängen auf die Spur gebracht haben, wirklich toll funktioniert. Das Community-Projekt in Moabit letztes Jahr etwa war mega anstrengend, hat aber auch alle Erwartungen übertroffen (Exploring: Jazzfest Community Film Lab Moabit) .
Auf der einen Seite die Hochkulturinstitution und auf der anderen Seite der Wildwuchs an 38 Initiativen in Moabit. Dazu gesellten sich dann noch 20 Workshopleiter:innen, 40 Musiker:innen des Festivals und die Herausforderung mit anderen Unwägbarkeiten wie fehlenden Geldern zur Finanzierung dieses stetig wachsenden Großprojekts, die wir on the fly auch noch akquirieren mussten. Diese Welten und deren Selbstverständnisse, Unsicherheiten und Wünsche zusammenzubringen war 10 Monate lang neben der Planung des Konzertbetriebs und eines akademischen Researchprojekts über unsere eigene Geschichte unsere Aufgabe letztes Jahr und gleichzeitig zugegebenermaßen auch eine echte Zerreißprobe für mein Team und mich.
Dass da am Ende aber tatsächlich über 500 Menschen jedweden Alters und Hintergrunds am Start waren und eine so bunte Vielzahl unterschiedlicher Initiativen und Player ihre Türen und Herzen geöffnet haben, um in einem kollektiven Zusammenschluss mit uns eine Woche lang den 60. Geburtstag des Jazzfests zu feiern, war weder erwartbar noch planbar in seiner Schönheit, seinem Zuspruch, Commitment, Dynamik und Kreativität – sicherlich eine dieser „once in a lifetime“-Erlebnisse als Festivalmacherin, bei denen man genau weiß, warum sich das „Sich zur Verfügung Stellen“ und das „Über sich Hinauswachsen“ absolut gelohnt haben.

Marilyn Crispell beim Jazzfest Berlin 2024 (wofür sie in diesem Jahr den „instant award for music“ verliehen bekommt – und auch wieder live zu erleben sein wird) (Photo: Fabian Schellhorn)
Lass uns zum Schluss auf das Festival blicken. Was sind die Momente, auf die du dich besonders freust?
Nadin Deventer: Das ist immer die absolute Horrorfrage, ich liebe natürlich alle Künstler:innen, die beim Festival auftreten gleichermaßen. (lacht)
Ich schätze den intergenerationellen Begegnungsort, der das Jazzfest auch ist, sehr. Menschen aller Generationen, von sechs bis 89 Jahren, auf die großen Bühnen einzuladen, zu zaubern. Wenn dann diese magischen Momente entstehen, in denen der Kinderchor 2023 von der Empore über und hinter den meisten Zuschauer:innen stehend das erste Mal in die völlige Stille und Dunkelheit des Saals hinein singt, zum Beispiel, oder Peter Brötzmann sich in einem seiner letzten Konzerte nach über fünf Jahrzehnten mit voller Wucht und Zartheit von seinem Publikum verabschiedet, wenn die zauberhafte Marilyn Crispell ihre Schüchternheit überwindet und die Musik nur so durch sie hindurchströmt in ein Pianosolokonzert von einem anderen Stern, oder Joachim Kühn sich mit über 80 Jahren noch einmal mit jungen Franzosen zusammentut, um gemeinsam die Kunst der Improvisation und des Moments zu zelebrieren und einfach abzuheben, dann reißt es alle Zuschauer:innen am Ende aus ihren Sitzen, dann spüren einfach alle – hier passiert gerade etwas wirklich Besonderes.

Jaimie Branch & Fly or Die beim Jazzfest 2018 (Photo: Camille Blake)
Eine Jaimie Branch spielte anders Trompete, als viele, brachte eine andere Spieler:innen-Haltung und kompositorische Sprache ins Spotlight der internationalen Szene und Bühnen. Als sie 2018 beim Jazzfest Berlin ihren ersten Europa-Auftritt mit ihrem Fly Or Die-Quartett gleich auf der großen Bühne feierte, schaffte auch sie es, wie alle großen Musiker:innen, das anfangs noch reservierte und skeptische Publikum im Festspielhaus mit ihrer Magie für sich zu gewinnen und die sog. 4. Wand zu brechen.
Nach einer gewissen Weile innerhalb unseres viertägigen Konzertmarathons im Festspielhaus und an anderen Orten der Stadt kann sich dank der gemeinsamen Erfahrung und auch wegen der kuratorischen Bezüge innerhalb des Jazzfestprogramms auch der sehr formelle Rezeptionsraum des großen Theaters in ein Wohnzimmer verwandeln. Auch das liebe ich sehr, dann geht es um Musik genauso wie um zwischenmenschliche Begegnungen. Ein gutes Programm hat diese Überwältigungsmomente genauso wie die zarten, fragilen, kombiniert Neues mit Wiedererkennbarem, fordert und besänftigt das Publikum auf seiner Reise durch das Festival.
Dieses Jahr kommt Wadada Leo Smith auf seiner wahrscheinlich letzten Europatour noch einmal wieder nach Berlin. Die Musiker:innen aus der AACM in Chicago waren wichtige Key-Künstler:innen der letzten Festivals. Ich freue mich aber auch auf die Projekte der dänischen Saxophonistinnen Signe Emmeluth mit ihrem Septett BANSHEE und Amalie Dahl mit Dafnie Extended – und ich bin sehr gespannt darauf, ob der kuratorische Bogen von diesen nordisch geprägten (Freejazz-)Großformationen hin zu David Murrays neuem Quartet bis hin zu Makaya McCraven, Pat Thomas oder dem von tollen Frauen dominierten 19-köpfigen Fire! Orchestra aufgehen wird.
Die mexikanische Vibraphonistin Patricia Brennan kommt endlich mit ihrem gefeierten Septett nach Deutschland, der Brite Barry Guy premiert mit dem international besetzten London Jazz Composer Orchestra sein Werk Double Trouble III in Berlin. The Young Mothers und Mopcut feat. Dälek kombinieren Noise und Impro mit Hip Hop, und mit Hilde präsentiert ein tolles Frauenquartett aus Essen und Köln kammermusikalische Perlen, und in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche begegnen sich in zwei Sets die französische Ausnahmesaxophonistin Sakina Abdou und das ägyptische Trio The Handover.
Marc Ribot fragt auf seinem Soloalbum „Lights of a Blue City“: „Where do you run when the world’s on fire?“ und liefert mit diesem Song gleich auch die zentrale Frage der diesjährigen Festivaledition, die mit 120 Künstler:innen aus über 20 Ländern unsere vielstimmige, internationale Musiker:innen-Community feiern will.

Nadin Deventer beim Check der Nebelmaschine für die Filmproduktion, 2025 (Photo: Chris Jonas)
Danke, dass du die Horrorfrage als Anlass für diesen prägnant-mitreißenden Programmdurchlauf genutzt hast. Wer jetzt keine Lust hat nach Berlin zu kommen, fühlt wirklich nichts mehr. Zum Abschluss würde ich noch gerne über ein ganz besonderes Projekt sprechen, das ihr dieses Jahr auch noch umsetzt: Das Jazzfest Community Film Lab.
Nadin Deventer: Wir laden auch dieses Jahr wieder zu einer Community-Woche vom 27. Oktober bis zum 2. November nach Moabit in das SOS-Kinderdorf, die Kulturfabrik, Cafés und Kiezkneipen. Es gibt kostenfreie Workshops und Konzerte, unter anderen von 20 Studierenden des Jazzinstituts Berlin. Das Herzstück der Woche im Jahr drei unserer Community-Arbeit ist die Gestaltung eines kollektiven Kunstfilms unter Beteiligung von 60 Kindern, Teenagern, Musiker:innen, Choreograf:innen, Tänzer:innen, Profis und Amateuren. Mit dabei sind internationale Filmschaffenden aus Kolumbien, Venezuela, den USA und Berlin, Kinder aus zwei Moabiter Horten, das transkulturelle Orchesterprojekt „Moabit Imaginarium“, welches wir im September ins Leben gerufen haben, und eine Gruppe vom postmigrantischen Community-Theater X. Das Besondere ist, dass wir alle gemeinsam seit Anfang September in einem sogenannten „Kreativen Team“ aus 11 Menschen sowohl das Narrativ entwickeln, als auch das Shooting in der Festivalwoche im Gropius Bau, am Flughafen Tegel und in Moabit planen und durchführen, bis hin zum Schnitt und der Postproduktion bis ins nächste Jahr rein.
Kollektive Leadership ist nicht unbedingt einfach, aber sehr lehrreich, und gemeinsam lernen wir, wie Film geht oder gehen kann, was alles dazugehört. Thematisch geht es andockend an Marc Ribots Frage, „wohin du rennst, wenn die Welt in Flammen steht“, um Dystopie und Utopie, um Traum und Trauma und um Fragen der Zugehörigkeit. Premiert werden soll der ca. 15-minütige Kunstfilm dann Anfang nächsten Jahres in Berlin.
Anthony Braxton’s Sonic Genome hat 2019 den Gropius Baus sechs Stunden lang mit 60 MusikerInnen schon einmal verwandelt in einen magischen Ort mit seiner „Ghost Trance Music“ und wer weiß, vielleicht passiert ähnliches dieses Jahr bei unserem Filmdreh an den zwei Tagen an gleichem Ort wieder mit den 30 Kids und allen anderen Beteiligten. Ich freue mich da mega drauf, bin gespannt wie ein Flitzebogen und unendlich dankbar für das Vertrauen und das Engagement, dass uns viele Menschen für die Realisierung solcher Projekte entgegenbringen.
Nadin, danke für deine Zeit, gerade in dieser hektischen Festivalphase.

Eröffnung Jazzfest 2019, Anthony Braxton’s „Sonic Genome“









