Noga Erez – Interview

Noga Erez “Ich mag den Begriff Selbstliebe nicht. Ich glaube, er wird inflationär gebraucht. Er kann auch sehr toxisch sein.”

Noga Erez (Photo: Yaniv Edry)

Mit „The Vandalist“ hat Noga Erez im September ihr bisher spannendstes und vielseitigstes Album veröffentlicht. Die israelische Musikerin gibt sich auf ihrer dritten Langspielplatte wieder gesellschaftskritisch, aber vor allem intim und nahbar. „Dieses Album ist tough und verwundbar, beides existiert hier“, sagt Erez.

Noga Erez aus Tel Aviv ist ein Allround-Talent: Die 34-Jährige hat an der Jerusalem Academy of Music and Dance studiert und avancierte zu einer der spannendsten Musikerinnen in Israel. Schon seit einigen Jahren ist sie auch international beliebt. Sie nahm bereits mit Missy Eliott Musik auf, auch Robbie Williams und Finneas, der Bruder von Billie Eilish, zählen zu ihren Fans. Erez ist Sängerin, Songwriterin, Produzentin und mittlerweile auch Rapperin. Auf ihrem dritten Album spürt man, dass sie sich alles vom musikalischen Buffet nimmt, worauf sie Bock hat: Der verspielte Song „Dumb“ erinnert zum Beispiel an Produktionen von Missy Elliott und Timbaland.

„Dumb“ zählt zu den toughen Songs: Das lyrische Ich überdenkt viel und ist neidisch auf Menschen, die dumm oder ignorant sind, weil die in dieser Welt so mehr Spaß haben können. „Dumb people never think they dumb.“ Aber dann wird Erez selbstkritisch. „Maybe I’m the dumb one“, singt sie leise. Das erinnert an Stream-of-consciousness-Verfahren: „Das lyrische Ich auf dem Album ist sehr ich-bewusst und im Moment. Es kritisiert sich in gewisser Weise selbst, während es gerade etwas aufschreibt. Auf diese Weise sind wir sicher: Wir können alles sagen, was wir wollen – solange wir uns darüber bewusst sind und mitteilen, dass man Dingen auch widersprechen kann“, erklärt sie das Konzept.

Auf „The Vandalist“ findet man viele humorvolle Passagen und es gibt Anspielungen auf andere Titel, die ihre „Hardcore-Fans“ entdecken könnten. Vor allem präsentiert sich die Sängerin sehr persönlich. „Danny“ zählt zu den vulnerablen Songs, rechnet aber auch ab. Erez geht es um negative Erfahrungen mit einem Therapeuten. „Erst einmal habe ich länger gebraucht, um meinen aktuellen Therapeuten zu finden, der perfekt zu mir passt. Man kann ja keineswegs erwarten, dass so etwas sofort funktioniert. Es handelt sich schließlich um eine menschliche Beziehung, das muss stimmen“, erzählt sie.

Der Song ist geprägt von einem bestimmten Vorfall: „Es geht um eine Beziehung, in der für mich einmal Grenzen überschritten wurden. Das kam für mich sehr unerwartet. Generell verhandelt der Song das Thema Beziehungen mit Autoritäten. Es ist gut, darüber zu reden. Viele Menschen machen solche Erfahrungen und sie sollten sich damit nicht alleine fühlen.“ Der Song sticht heraus, auch klanglich: Er wirkt besonders opulent, es gibt Vintage-Vibes und elegante Streicher. Das matcht mit dem Gesang von Noga Erez, die ja auch Erfahrungen mit Ensembles hat: Sie arbeitete schon mit dem Israel Camerata Jerusalem, dem führenden Kammerorchester in Israel, das als eines der besten der Welt gilt. „Danny“ ist außerdem ein Feature mit Robbie Williams, dessen Tochter Fan von Erez ist. Der britische Pop-Star kontaktierte sie. Als Williams live in Tel Aviv auftrat, trafen sich die Musiker:innen. Williams sei „smart“ und „sehr nett“: „Irgendwann waren wir dann mutig genug, ihn zu fragen, ob er bei einem Song mitmachen möchte. Er sagte: Sicher!“

Auf „The Vandalist“ gibt es einige Features: unter anderem Flyana Boss, ein US-amerikanisches Rap-Duo, mit dem Erez spielerisch den Inszenierungswahn auf Social Media verhandelt. Und dann wäre da Ravid Plotnik, der aktuell zu den gehyptesten Rappern in Israel und mittlerweile zum Freundeskreis von Erez gehört. Er hat im old-schooligen „A+“ einen sehr diskursreichen Part, beweist seinen markanten Flow und rappt wie auch sonst auf Hebräisch. Plotniks rasante Punchlines spielen unter anderem auf Zuckerberg und den rechtsextremen Sicherheitsminister Ben-Gvir an, erinnern aber auch an die Oslo-Abkommen Anfang und Mitte der Neunziger Jahre.

In Interviews mit Erez soll es aber nicht um Politik gehen, diese Bitte äußerte im Vorfeld das Management. Gesprächsstoff gibt es sowieso mehr als genug und auf „The Vandalist“ viele introspektive Momente: In „A+“ verhandelt sie selbst etwa den krassen Stress und Druck, den ihre letzte Tour teilweise verursachte. Ein berührendes und musikalisch eher schlichtes Stück ist „Mind Show“, Erez wird in dieser Ballade fast nur von Streichern und einer Akustikgitarre begleitet. Es geht darum, dass man oft zu hart mit sich selbst umgeht: „I know you can be your worst enemy / The way that you talk to yourself all the time / You’ll never be so rough to no one else“, singt sie hier.  Der Song lässt sich als eine Art Selbstgespräch und Plädoyer für Selbstakzeptanz deuten: „Ich mag den Begriff Selbstliebe nicht. Ich glaube, er wird inflationär gebraucht. Er kann auch sehr toxisch sein“, erzählt sie. „Mit sich selbst fair umzugehen und sich selbst so zu behandeln wie andere Menschen auch, eben nicht härter mit sich als mit anderen zu sein: Das ist hingegen eine Botschaft, die für sehr viele Menschen immer relevant sein wird. Genau die habe ich damals gebraucht, also habe ich den Song geschrieben.“ Der Song ist ein Mutmacher: „Es ist ein Lied für mich selbst, aber ebenso ein Stück über die Beziehung zum Publikum. Auch deshalb ist es das letzte Stück auf dem Album: Diese Verbindung zum Publikum war für mich sehr, sehr wichtig – vor allem in Zeiten, in denen ich nach mehr Gründen gesucht habe, um mit meinem Projekt weiterzumachen.“

Noga Erez (Photo: Shai Franco)

Ihre neue Musik würde ohne ihren Partner Ori Rousso anders klingen, der die Musik mit geschrieben hat und im Song „PC People“ auch zu hören ist. Noga Erez spricht auch in der Wir-Form, als sie nach den dieses Mal doch auffallend HipHop-lastigen Sounds gefragt wird. „Ori ist mein Produzent und mein Partner. Wir haben mit vielen Genres experimentiert. Generell sind wir keine Musiker:innen, die uns durch ein Genre definieren. Aber nun ist dieses Album draußen und ich merke schon, dass man unsere frühen HipHop-Einflüsse raushören kann. Das ist doch cool, es ist eine Art Hommage an unsere Held:innen.“ Ãœber eine schwierige Phase in ihrer Beziehung mit Rousso dreht sich das Liebeslied „Come Back Home“. Es geht um Zwischenmenschliches, um lauten Streit in der Küche und die Sehnsucht einer Reunion: „I can’t wait to hear the sound / Of you marching back in town“, lautet eine Strophe.  Erez hat mit der Arbeit an „The Vandalist“ bereits circa sechs Monate nach der Veröffentlichung ihres Albums „Kids“ (März 2021) begonnen, ungefähr zwei Jahre Arbeit stecken in „The Vandalist“. Doch „Come Back Home“ hat ohne ihr Zutun ein Eigenleben entwickelt: Sehr viele Menschen in ihrem Heimatland denken bei dem Liedtext an das Schicksal der Geiseln, die bei dem Massaker der islamistischen Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 aus Israel entführt worden sind.

„My love is timeless, I wait by the phone“

„The Vandalist“ ist ein oft bewegendes und extrem abwechslungsreiches Album. Die reduzierten, aber auch die pompöser arrangierten Songs überzeugen. Außerdem gibt es einen Hidden Track: In „Oh, THANK YOU!“ zählt Noga Erez ihre Einflüsse auf. Sie bedankt sich unter anderem bei „Frank Sinatra and Ocean“, bei den Beatles, bei US-Rapstar Kendrick Lamar, bei der schwedischen Musikerin Lykke Li, bei der Britpop-Ikone Damon Albarn, bei den Cardigans, bei den Pixies, bei Naughty By Nature, bei der nigerianischen Afrobeat-Legende Tony Allen, bei dem argentinischen Rapper Dillom, mit dem sie den Reggaeton-Song „AYAYAY“ singt und bei der israelischen Musikerin Eden Ben Zaken, mit der sie den Song „GODMOTHER“ aufnahm. „Oh, THANK YOU!“ ist eine diverse, mit Beats unterlegte Dankesliste und unterstreicht sehr gut den eklektischen Ansatz von Erez. „Diese Welt hat so einen Reichtum – warum sollte man davon nicht alles genießen?“, sagt sie und ist auch mit diesem Vibe so vielen Acts in der Pop-Welt meilenweit voraus.

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