Von kollektivem Interesse: Doctorella

„Für uns ist Boheme der Zustand, wo der Kapitalismus nicht mehr zwischen „arm“ und „reich“ unterscheiden kann.“

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Sandra Grether & Kerstin Grether


Der bundesdeutsche Musikjournalismus ist undenkbar ohne die Grether Schwestern. Stop. Das ist so natürlich nicht ganz zutreffend formuliert. Richtig muss es heißen: der bundesdeutsche Musikjournalismus ist undenkbar ohne Sandra Grether und Kerstin Grether. Denn in der Verdichtung der beiden als Geschwisterpaar steckt eine immense Unschärfe, die bei allen Gemeinsamkeiten, die bei Zwillingen im Allgemeinen und ihnen sicherlich auch im Speziellen existieren, das Wesentliche ihrer nun schon mehr als zwanzig Jahre andauernden Achterbahnfahrt mit Spex, Intro, Taz, FAZ und wo sonst sie noch ihre Spuren hinterlassen haben, außer Acht lässt: all die Feinheiten, die schon immer Schreibe, Gestus und Habitus der beiden unterschied, und die, deswegen muss das an dieser Stelle nochmals so betont werden, Doctorella in jener mittlerweile gefundenen Vielschichtigkeit überhaupt erst zulässt.

Hört man „Ich will alles von dir wissen“ (Bohemian Strawberry/ Zickzack), dieses nicht nur genial betitelte zweite Album von Kerstin und Sandra Grether, so hört man ein wahres Pop-Kaleidoskop. Es funkelt geheimnisvoll aus so vielen Ecken zugleich, da sich beide Protagonistinnen auf magische Weise zu multiplizieren wissen. Damit ist gemeint, dass man den Songs des Album nicht nur anmerkt, dass beide sehr ernsthafte Beobachterinnen der aktuellen Popmusik sind und dementsprechend visiert zu allem ihre Position und Meinung besitzen, auf die eigene Popmusikproduktion gewendet gelingt ihnen zudem das Husarenstück dieses akribische Wissen mit Leidenschaft zu kreuzen, ja mit Leidenschaften. Das Ergebnis ist ein multiple speaking with the tongues of pop wie man es aus Deutschland so flamboyant, sehnsüchtig und mikropolitisch viel zu selten zu spüren bekommt.

All das hier gesagte, führte dazu, dass Doctorella ihre Fragen nicht von einer singulären AutorIN gestellt bekommen, sondern große Teile des Kaput Kollektiv ihre Neugierde von ihnen befriedigt bekommen wollen. Sie sind eben „Von kollektivem Interesse“!

Sandra, Kerstin, die Frage, die sich mir als erste nach dem Hören von „Ich will alles von dir wissen“ stellt, ist jene nach dem „echten Leben“ von dem ihr auf dem Album singt, „dem Leben der Boheme“, mit dem ihr dem Wahnsinn da draußen entgegen treten wollt. Das ist so ein komplexes Thema, das es wohl mehrere Teilfragen sind, die ich an euch habe:
a) Gibt es dieses Boheme-Leben denn noch so wie ihr es euch vorstellt?
b) Auf wen oder vielmehr welches Biotop bezieht sich dieser Sehnsuchsraum?
c) Und als wie anschlussfähig empfindet ihr eure Utopie denn?
(Thomas Venker)
Zu a) – Kerstin Grether: Ich mochte einfach die Vorstellung von einem luftigen Popsong, der vielleicht sogar im Radio laufen kann, in dem die deutsch singende Sängerin mal nicht von diesen üblichen esoterischen Wischiwaschi-Sachen träumt, sondern von sowas handfest verrückten wie „Boheme“.
Sandra Grether: Das ist auch eine Provokation, sich andere Sehnsuchtsorte zu suchen als die konventionell Sinnstiftenden. Und sollte zunächst auch einfach im Song selber funktionieren, der ja so ein Szenario aus klassischer Boheme beschreibt: „Wesen aus einem anderen Jahrhundert“, „Gemälde“, „Schöpfung“, „Genie“. Und eigentlich wollten wir uns gar nicht fragen, ob es dieses Boheme Leben so noch gibt oder nicht, sondern einfach mal wieder den Mythos antippen, dieses große Zauberwort, und schauen ob es da Resonanz gibt in den Leuten. Wie sie darauf reagieren. Vielleicht setzt sich da ja was neu zusammen, vielleicht erzeugt das ja einen Sog bei denen, die auf radikale Selbstentfaltung stehen und die nicht mehr wissen, wie sie das noch leben sollen; egal aus welchem Milieu sie kommen. Also Boheme als neues heißes Ding und nicht als alte Idee.

Zu b) – Sandra: Boheme ist ja so definiert, dass Künstler/innen darin leben. Und da wir selber so radikal diesen Künstlertraum leben – der ja nicht immer nur ein Traum ist, sondern auch was Albtraumhaftes haben kann, wo man aber als Künstler/in nicht rauskommt, wenn man nun mal diesen schöpferischen „Zwang“ in sich fühlt – wollten wir auch schöne Orte finden, wo so etwas lebbar sein könnte. Uns also auch selber mit der Utopie Mut machen. Aber auch die Frage nach Kollektivität in den Raum werfen. Es ist eben die Kollektivität ehemaliger Bürgerkinder. Wir wollten jetzt auch nicht so tun, als kämen wir von der Straße.
Kerstin: Aber Kollektivität fordern, ist ja irgendwie in der Mittelschicht, wo jede/r allein sein Päckchen trägt, im Grunde total verpönt, jenseits aller Sonntagsreden.

Zu c) – Kerstin: Wir empfinden das als sehr anschlussfähig, weil es den Neoliberalismus spiegelt und bricht. Für uns ist Boheme der Zustand, wo der Kapitalismus nicht mehr zwischen „arm“ und „reich“ unterscheiden kann. Sowas wollen wir lobpreisen und besingen, sowas feiern wir. Das ist vielleicht naiv, aber ohne Naivität keine Kunst und keine Substanz.

Liebe Doctorellas, was ist euer liebster Rihanna-Song und warum?
(Sebastian Ingenhoff)
Kerstin und Sandra: „Under my umbrella“, wegen dem: „ella ella ella“-Chorus!
Wer sind Eure Lieblings-Comic-HeldInnen!
(Christina Mohr)
Kerstin: Lustig, mit Comics kenne ich mich ganz schlecht aus. Eigentlich kenne ich nur Battle Angle Allita und Lara Croft. Und die finde ich gut.
Sandra: Ich mag Maggie aus den“ Love and Rockets“ Comics von den Hernandez Brüdern.

Was ist schlimmer: Männer, die einem erklären wollen, wie das mit dem Feminismus richtig funktioniert; oder Frauen, die den Feminismus als Feind ihrer als natürlich wahrgenommenen Geschlechterrolle ausgemacht haben?
(Lars Fleischmann)
Sandra: Da ja Frauen, die sich vom Feminismus distanzieren, auch von strukturellem Sexismus betroffen sind, genießen auch sie unsere Solidarität.
Kerstin: Frauen, die einfach nur eine als natürlich wahr genommene Geschlechterrolle für sich leben, empfinde ich nicht als schlimm. Solche, die allerdings darüber hinaus den Feminismus als „Feind“ definieren, habe ich schon lange nicht mehr getroffen. Die gehen wahrscheinlich auf Pegida-Demos.
Sandra: Am lustigsten ist es ja, wenn männliche Pop-Kritiker für die Idee der „Post-Feministin“ schwärmen, weil sie nicht damit klarkommen, dass fast alle bedeutenden Musikerinnen, auch international, sich HEUTZUTAGE zum Feminismus bekennen. Da kann ich doch nur sagen: I`ll be a post-feminist in a post patriarchy.

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Sandra Grether & Kerstin Grether (Photo by Theresa Lehmann)

Für mich als Hypochonder steckt ja in Doctorella auch das Versprechen von der sympathischen Errettung durch Popmusik – eine Interpretation eures Bandnamens, die ihr mögt?
(Thomas Venker)
Sandra und Kerstin: Ja, die mögen wir sehr! Wir sind auch Hypochonder und finden die Idee beruhigend, selber in den Doktorenstand zu treten. Wir kommen also gerne um zu heilen. Besonders dich, Thomas, wenn dich mal wieder die Bordsteinkante blutig küsst.

Hallo Doctorella! Würdet Ihr lieber mit Alice Schwarzer über die Vorfälle der Kölner Silvesternacht diskutieren oder mit Laurie Penny über Israel?
(Saskia Timm)
Kerstin: Ich würde am liebsten mit Laurie Penny über die Vorfälle der Kölner Silvesternacht diskutieren, und mit Alice Schwarzer über Israel. (lacht)

Sagt mal, empfindet ihr euren Dialekt auch so als Stärke wie ich?
(Benjamin Walter)
Sandra: Wir haben extra mit einer Sprachlehrerin unsere Lyrics auf hochdeutsch geübt, um sie so dialektfrei einzusingen.
Kerstin: Wie wir privat reden ist ja Privatsache. Wir lebenn in einem Europa der Slangs, Dialekte und Akzente. Ich gehe nicht davon aus, dass ein Mensch und seine Herkunft zwangsläufig eine Verbindung eingehen müssen.
Sandra: Wenn man als Süddeutsche in Berlin lebt, möchte man am liebsten kotzen, wenn einen jemand fragt, wo man herkommt. Sie wissen es ja eh. Und man hat das Gefühl, sie wollen mit dieser Frage nur ihre Überlegenheit zum Ausdruck bringen. Auch wenn sie es dann mit „find ich sympathisch“ kommentieren. Wenn ich nämlich sage“ Ich komme aus Heidelberg“ finden das immer alle ganz wunderschön, aber wenn meine Freunde aus Stuttgart sagen, sie kommen aus Stuttgart, unterstellt man ihnen die übelsten Dinge. „Dialekt“ ist eine Unterdrückungskategorie, deshalb lehne ich es ab, das als Stärke oder Schwäche zu definieren. Die Idee sich sprachlich komplett der Stadt oder dem Land anzupassen, in der man lebt, fände ich aber auch lächerlich. Warum? Damit alle wieder gleich sind und alles wieder geordnet ist?

Sandra, Kerstin, wart ihr schon mal in denselben Typen verknallt? Wie harmonisch oder nicht-harmonisch regelt sich diese Situation gemeinhin?
(Linus Volkmann)
Kerstin: Ja, schon mindestens vier mal.
Sandra: Lustig ist das nicht unbedingt. Blöd ist, wenn man es sich selber nicht eingesteht. Wenn wir darüber reden können, ist meistens schon ein Weg gegangen worden.
Kerstin: Aber wahrscheinlich passiert das jetzt nicht mehr. Weil jede von uns sich jetzt besser kennt. Und vor allem, weil wir gemerkt haben, dass wir eigentlich auf ziemlich unterschiedliche Männer stehen. Schlimm ist auch, wenn ich einen Freund habe, der Sandra nicht akzeptiert oder umgekehrt.
Sandra: Oder wenn sich unsere Freunde gegenseitig nicht leiden können und weigern zu viert auszugehen oder Abend zu essen.

Wo wir gerade schon beim Thema Leidenschaft sind: „Ich will alles von dir wissen“ unterscheidet sich für mich vom Vorgängeralbum vor allem durch das omnipräsente Gefühl der Freiheit. Die Songs klingen so herrlich ungebändigt, und das obwohl sie in Form und Ausgestaltung, auch das eine Entwicklung zum Debüt, so viel mehr Konsequenz in sich tragen. Wie wichtig ist das Sich-Gehen-Lassen-Können im Prozess der Entstehung eines Doctorella-Songs?
(Thomas Venker)
Kerstin: Apropos Leidenschaft. Ja, es ist ein gegenwärtiges Album über die Liebe. Mit diesen überbordenden Liebesliedern haben wir anscheinend, ohne es zu planen, einen ziemlichen Nerv getroffen. Heute morgen habe ich einen Artikel im Spiegel über die Art und Weise gelesen, wie heutzutage in den Städten geliebt wird. Sowas ist natürlich immer eine Verallgemeinerung innerhalb der Mehrheitsgesellschaft, aber da stand: die Menschen wollen sich, heute mehr denn je, in der Liebe selbst überschreiten und nur die Intensität des Gefühls entscheidet bei vielen Paaren noch darüber, ob sie zusammen bleiben oder zusammen kommen. Der Artikel kommt also lustigerweise zu einem ähnlichen Schluss wie wir in unseren Liedern: „Nur die Gefühle sind echt.“ Es gibt keinen Grund mehr für die Liebe, außer die Liebe. Ökonomische Zwänge sind nicht mehr so präsent wie früher.
Sandra: „Heißluftballon“ handelt zum Beispiel von zwei von Gewalt Betroffenen, die sich in ihrer Liebesbeziehung gegenseitig heilen. Was ein ganz schön hoher Anspruch an die Liebe ist! Und die Ballade „Es war nur eine lange Berührung“ birgt die Sehnsucht nach Überschreitung der eigenen Identität in der Liebe in sich.
Kerstin zu Sandra: Aber du wolltest doch eigentlich was über die Musik sagen!
Sandra: Ja! Das was so „herrlich ungebändigt klingt“, ist – Linus hast es schon angedeutet mit „Form und Ausgestaltung“ – eine Menge Kompositionsarbeit. Das „Sich Gehen Lassen“ kommt davor, also bei der Inspiration und Ideensammlung für die Songs, und danach: also beim Spielen, Singen, Loslassen. Dazwischen liegen strenge künstlerische Formvorgaben. Und ich glaube, der Eindruck, auch im Vergleich zum letzten Album, liegt auch an dem luftig-flockigen folkigen Schlagzeuspiel von Flavio Steinbach, das weniger brettert und mehr Songfreiheiten für uns alle zulässt.
Kerstin: Ich habe eine wunderschöne Gesangsmethode entdeckt, die einen Sog im Körper und den Stimmlippen erzeugt. Es ist beim Singen ein Gefühl wie Schweben, Klangkörper-Sein. Das klingt dann immer so sehnsuchtsvoll, und ich glaube, das überträgt sich auf die Hörer/innen. Es ist keine Angeber-Methode, aber eine, die Leute berühren kann.

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The Name of the Band is: Doctorella (Photo by Simone Ciolek)

Wie hält man das mit der eigenen Schwester in einem künstlerischen Bund aus und wie halten das vor allem die anderen Bandmitglieder aus?
(Aida Baghernejad)
Kerstin: Indem wir unterschiedliche Rollen innerhalb dieses Bundes haben. Und zusätzlich zum künstlerischen Bandbund noch ein eigenes künstlerisches und auch ein eigenes Privatleben.
Sandra: Wir sind sehr unterschiedlich in vielen Dingen. Unsere Rhythmusgruppe Flavio und Fabrizio Steinbach sind ja auch Zwillinge. Und zwar auch eineiige, die sich unterschiedlich kleiden und verhalten wie wir. Das passt natürlich super zusammen.
Kerstin: Sandra und ich haben jahrelang nicht mal in denselben Städten gewohnt. Das wiederum ist eine wichtige Voraussetzung, dass wir bei Doctorella zusammen arbeiten können. Es gab auch Phasen der Entwicklung, wo wir uns erst jede selber finden mussten, auch künstlerisch. Da wäre das nicht gegangen. Jetzt ist es toll und befreiend. Weil man sich nicht verstellen muss.

Liebe Doctorella Bande! Als Teil der gefühlt anti-machohaften und selbstredend durch und durch emanzipierten und vor Gleichberechtigung strotzenden Indieszene: wie oft wurden euch dumme Fragen gestellt (wie haltet ihr den Stress aus, wie haltet ihr euch fit, was sagen eure Partner/Familie/Kinder dazu wenn ihr ein Monat oder länger auf Tour seid?) und wenn ja, welche war bisher die Tollste?
(Saskia Timm)
Kerstin: Ganz ehrlich, die von dir ausgedachte blöde Frage „was sagen eure Partner/Familie/Kinder, wenn ihr ein Monat oder länger auf Tour seid?“ Ich würde darauf so etwas sagen wie: „Da ich ja eher so der häusliche Typ bin und mit Ausnahme des Redaktionsjobs bei der Spex mit Anfang 20 immer, immer, immer von zu Hause aus gearbeitet habe (geschrieben, Musik gemacht; das Kaffeehaus von nebenan mit eingerechnet), haben meine Partner immer kapiert, dass wir auf diese Weise endlich mal aus dem Haus, aus der Stadt rauskommen und wir gemeinsam Urlaub on the road machen können.“
Sandra: Meine liebste blöde Frage war die völlig ernstgemeinte Frage “Seid ihr Pussy Riot?“, dazu auch noch in der Zeit, als sie im Knast saßen.

Stichwort Bohemian Strawberry, euer eigenes Label: Schon immer ehr Beatles als Stones, gell?
(Thomas Venker)
Sandra und Kerstin: Yeah, bei der Frage Beatles oder Stones müssen wir keine Sekunde nachdenken und sind uns komplett einig, Beatles, Beatles, Beatles.

 „Ich will alles von dir wissen“ erscheint am 28. Oktober auf Bohemian Strawberry/ ZickZack. 

Doctorella live:
Köln, Kulturcafé Lichtung, 28.10.2016
Frankfurt, Mousonturm, 29.10.
Bochum, Wagen 1, 5.11.
Darmstadt, Goldene Krone, 11.11.
Karlsruhe, KOHI, 12.11.

 

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