Records of the Week

Bibio “BIB10” / VA “Made to Measure Vol. 47: Fictions”

Various Artists
“Made to Measure Vol. 47: Fictions”
(Crammed/Indigo)


Empirisch kann ich keinen Zusammenhang zwischen vorliegenden neuen Musiken und empathischen Musiker:innen beweisen. Aber emotional erscheint es mir so. Diese wunderbar verspielten, pluckernden, aufscheinenden Songtracks können einfach nicht von und für schlechte(n) Menschen sein. Jaja, jetzt können wir die hiesige Bedeutung von ‚schlecht’ diskutieren. Ich schlage mal stattdessen unreflektiert, unironisch und selbsthumorlos vor.

Die „Made to Measure“-Reihe wurde 1984 begonnen und war für mich mitsamt der Labels Crammed und Les Disques du Crépuscule Ausdruck eines künstlerisch komplexeren Verständnisses von Post Punk, New Wave oder Art/Avantgarde Rock im totalen Crossover. Dass Acts wie Anna Domino, Minimal Compact, Colin Newman (Wire), Tuxedomoon, Josef K oder Thick Pigeon irgendwie anders und wenig stumpf waren, klärt sich beim Zuhören sehr schnell. Unbedingt wieder und neu entdecken bitte.

Wo die 1980er seit einiger Zeit in ihren popmusikalischen Kulturen endlich gewürdigt und wertvoll wieder aufgegriffen werden, scheint es naheliegend, dass auch diese Reihen oder Labels neue Schwünge bekommen haben. Das neueste Volume lässt neben Oldies wie Benjamin Lew & Steven Brown, Halb-Oldies wie Matias Aguayo (hier mit Lucrecia Dalt und Camille Mandoki), Petter Molvaer (hier als Feature von Stubbleman) auch jüngere und vor allem Künstlerinnen wie Kaitlyn Aurelia Smith oder Lucrecia Dalt zu Klang kommen.

Letztere sprach ich vor einigen Jahren auf einem Festival an, ob sie die genannten Labels und Acts kenne, was sie verneinte. Dabei erinnerten mich Dalts frühe Alben (und auch ihr neues, gerade veröffentlichtes „¡Ay!“) an sie. Die Kolumbianerin und Wahl-Berlinerin und alle hier neu vertretenen Songs, Tracks oder Dinger sind reichlich instrumentiert – sei es digital oder analog –, verschwurbelt und schillernd zugleich. Eben wie früher – nur anders. Immer kurz vor Field Recordings – oder schon mittendrin wie etwa Christina Vantzous oder Félicia Atkinsons soundtrackartige Piano-Klanglandschaften im wahrsten Sinn des Wortes. Und doch Pop. Großartig.

Bibio
“BIB10”
(Warp/Rough Trade)

Apropos Pop: Bibio ist mir irgendwie ganz zu Beginn etwas durchgerutscht – oder noch von derzeit aktuellen Releases beim „Warp“-Label wie Gonjasufi oder Oneohtrix Point Never überlagert worden. Erst später nach dem Erscheinen des Albums „A Mineral Love“ aus 2016 lief meinen Ohren der Einsame-Insel-Song „Petals“ über die Ohren als Remix auf einer Compilation. Egal, in welcher Version, und es gibt einige, der Song ist Liebe.

Stephen Wilkinson ist nun auch schon seit 2004 als Bibio tätig. Sein neues Album „BIB10“  ist gefällig und doch nicht nur easy. „Off Goes The Light“ knüpft schon an die „Made to Measure“-Mentalitäten an, sicherlich noch wolkiger und ‚more fluffy‘. Aber keinesfalls leichtgewichtig. Futuristisch und dennoch Traditionen wie Indietronics, Electronic, Folk oder Funk nicht ablehnend, lässt Bibio sein zehntes Album nach eigener Auskunft im Infosheet „sound more polished and slick“ als etwa das letzte „Ribbons“ (2019). Spätestens mit dem zweiten Song „Potion“ sind wir tatsächlich bei so etwas wie Indie Soul und Funk und kurz vor Prince – Jamie Lidell und darüber hinaus die 1970er lassen kräftig grüßen. Inklusive Gitarrensoli. Wobei gleich anschließend bei „Sharatt“ der sanfte, pluckernde Post Folk wieder mitreißt und bei „A Sanctimonious Song“ eben jenes legendäre „Stück „Petals“ grüßen lässt. Wenn doch Nick Drake nur ein bisschen Hoffnung gehabt hätte. Leuchtend.

Um auf den Einstieg zurückzukommen: Und wenn das auch nur total subjektiv und gefühlt ist, Aspekte, die in der Popreflexion gleichwohl superwichtig sind: Diese beiden Alben sind herausfordernd, reflektiert-eklektizistisch, tröstlich und deshalb gut. Wie das Leben. Und die Lieb(st)e.

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