Record of the Week

Mark Stewart „The Fateful Symmetry”

Mark Stewart
„The Fateful Symmetry”
(Mute/PIAS)

Der Post-Punk-Spießer in mir war sehr irritiert: Zwischen einer meiner ersten CDs, David Sylvians „Gone to Earth“ (1986), die ich nur wegen des angeblich phantastischen Sounds kaufte, den sie dann auch ausstrahlte, und dem allmählichen Abschied vom dunklen Wave Punk à la früher The Sisters of Mercy, Siouxsie & The Banshees, The March Violets oder Red Lorry Yellow Lorry, die mir Halt gaben (zur selben, suchenden Phase vor dem Abi siehe auch mein Review zu Laibach, Throbbing Gristle und Swans), landete dann 1987 und immer noch vor der Hochschulreife dieses seltsame digitale Ding „Mark Stewart“ in meiner Musikanlage.

 

Ziemlich schlecht abgemischt, so schien es, irgendwie ‚strange‘, weit draußen, seltsam lapidar und doch gleichzeitig vollkommen irre, weird und faszinierend. „Look at the things that money can’t buy“, sprechtsingtrapt Stewart dort, haut uns wildeste Samples um die Ohren, die zum Diggen einladen oder einfach nur zum bekifften Wippen.

Alte/r, das ist ja eigentlich heute noch viel durchgeknallter als damals, wenn du anfängst, alle vermixten Referenzen und Zitate aus Pop- und Medienwelt zu verstehen. Den krassen musikalischen Reißwolf aus HipHop, Punk, Industrial, Afrobeat, Bowie, Satie, Idol und Bassmusik zu checken.

Also schnell nochmal alles hören. Stewarts neues, achtes Soloalbum erscheint knapp 40 Jahre (!) später und leider posthum. Finalisiert kurz vor seinem viel zu frühen Tod in 2023. Radikal, politisch, protestierend, assemblierend, collagierend, theoretisierend, ganz praktisch und angewandt, und immer wahnsinnig krach-poetisch, das ist das popmusikalische Erbe des Musikers und Denkers aus Bristol. Zu den davor beinahe unversöhnlichen Ecken und Kanten gesellen sich nun Disco, Durchatmen, aber trotzdem immer (auch entschleunigt, erfahren, keinesfalls weise) versuchend, seine Füße zurück auf den Boden zu bekommen. Wie es Stewart selbst in „Memory of You“ beschreibt.

In all dem Durcheinander hat sich bei Stewart und seinen Projekten immer eine schillernde, hoffungsvolle Melancholie entwickelt. Auf den neuen, letzten Songtracks aber leuchtet diese noch heller („Neon Girl“). Ob das am Wissen um parallele Endlichkeiten, Vorläufigkeiten und Unverfügbarkeiten liegt. Oder am, typisch Stewart, stets mitlaufenden Mitmachbarkeits-Duktus – D.I.Y. als Prämisse über oder unter allem Nerdtum, das ist schwer einzuschätzen.

Was denkt ihr? „This Is The Rain“ und „The Long Road“ klingen nach einem verhallten, hauntologischen, wenn auch frohen Abschied. Und bringt jeden ‚echten Mucker‘ (meistens Männer) mit Sicherheit immer noch schnell auf die elitistische Palme.
Tatsächlich erst vor einigen Jahren besorgte ich mir die Alben der Pop Group und begriff um so klarer, wieso sie historisch wunderbar neben Slits, Wire, Swell Maps, The Raincoats (deren Gina Birch auf „The Fateful Symmetry“ mitsingt), Primal Scream, Quando Quango, Chicks On Speed, Cabaret Voltaire, New Order, Portishead, Vivien Goldman, Adrian Sherwood und Grandmaster Flash passen. Und systematisch zwischen heutige Avantgarde, Noise, Dub, IllHop, Synthie Pop, New New usw. Wave, Neo-Krautrock und immer wieder und weiter Dancefloor, immer in der angenehm nervigen Variante bitte.

Mark Stewart ist leider 2023 gestorben. Stewarts Musik wird für mich immer größer, erfüllender und – im positiven Sinn – herausfordernder. Erholung geht anders. Dies ist antifaschistische Katharsis. Wie es sonst nur die Liebe vermag. „Everybody’s Got To Learn Sometime“…

Ich bin ge-, be- und umgerührt.

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