Danielle de Picciotto „Et Arripuerit“ – Videoclip-Premiere

“Eine Befreiung von dem Wahn, dem Chaos, der Gewalt und der Verzweiflung”

Danielle de Picciotto by Sylvia Steinhäuser

Danielle, dein neues Album trägt den Titel „Deliverance“, was man als Befreiung aber auch als Erlösung lesen kann. Willst du die Überlegungen hinter dem Titel und damit dem Albumnarrativ transparent machen?
Ich bin weniger Entertainerin als Klangforscherin. All meine Kreativität hat ausschließlich das Ziel eine größtmögliche Intensität oder Energie zu erreichen. Deswegen kann ich wenig vorher bestimmen, es entscheidet sich während der Arbeit was für ein Thema sich heraus kristallisieren wird.In diesem Fall war ich selber überrascht über das Ergebnis. Ich hatte eigentlich eher etwas konzeptionelles vorgehabt. Eine Arbeit mit Sound. Mein letztes Solo Album war ja auch größtenteils instrumental. Dieses Mal überrollten mich aber Worte, Gedanken und eine ziemlich große Verzweiflung. Erst durch diese Arbeit wurde mir klar wie sehr mich politische, ökologische und soziale Themen momentan auch im Unterbewusstsein beschäftigen. Wie ich versuche damit umzugehen um davon nicht überwältig zu werden . Und dass ich mir die ganze Zeit eine Art Erlösung wünsche. Eine Befreiung von dem Wahn, dem Chaos, der Gewalt und der Verzweiflung. Darum geht es in diesem Album. Es ist ein tosender Gedanken- und Soundstrom der versucht zu verstehen, zu verdauen und Wege zu finden wie wir uns erlösen können.

„Et Arripuerit“ wiederum steht für das Anhalten. Du bist ja nun eine Künstlerin, die sich sehr über den Zustand der Mobilität definiert, im Sinne von Neugierde und Rastlosigkeit. Wie wichtig sind trotzdem Momente des Innehaltens für das künsterische Arbeiten.
„Et Arripuerit“ heißt auch ”aushalten”. “Nicht aufgeben, weitermachen”… und darum ging es mir. Ich denke oft “Augen zu und durch” und finde, dass Ausdauer einer der wichtigsten Disziplinen ist, die man sich beibringen kann. Die ist natürlich auch mit Innehalten verbunden denn nur so kann man sich bewußt machen, worum es eigentlich geht. Ich versuche in der Bewegung innezuhalten, das heißt jeden Schritt bewusst zu setzen. Das habe ich auf meinen viele Reisen gelernt. Nur so stolpert man nicht oder zumindest weniger.

Wie sieht das denn mit dem Verhältnis von Kunst und Leben aus – eine Frage, die mehrere Fragen beinhaltet: Kann man Kunst und Alltag trennen?
In meinem Alltag ist die Kunst von dem Leben sehr schwer trennbar, wobei ich es immer wieder versuche. Es wäre schön auch Momente ohne diese extreme Intensität zu erleben. Meistens ist es aber so , dass alles in meinem Leben ineinander verwoben ist, manchmal so sehr, dass es schwer festzustellen ist, was Traum, Realität oder Kunst ist. Ich bin da wie ein Aufnahmegerät: Alle Geräusche, Farben, Materialien , Gesten, Worte, Stimmen werden von meinen Sinnen aufgenommen und lösen eine sofortige Auseinandersetzung in mir aus wie alles neu zusammen gesetzt werden könnte… ist nicht unanstrengend. Viele halten mich für einen Workaholic. Tatsächlich sind meine Bilder, Bücher und Alben nur ein kleiner Teil dessen, was ich machen könnte, gäbe es 48-Stunden-Tage. Es ist wie ein konstanter Druck der mich nach vorne schiebt.

In welcher Songwritertradition siehst du denn deine aktuellen Arbeiten? Gibt es Vorbilder?
Ich finde es immer schwer in Kategorien zu denken und versuche mich von Vorbildern frei zu halten. Ich mag es nicht beeinflusst zu werden. Dadurch hätte ich das Gefühl nicht authentisch genug zu sein. Schriftsteller sind mir vielleicht am ehesten Vorbilder, denn sie müsen sich mit jedem Wort oder Ton auseinander setzen. So fühle ich mich auch. Da fallen mir Flannery O`Conner oder Carson McCullers ein. Geschichtenerzähler fand ich schon immer einen tollen Beruf und ich denke das ist eine Tradition, mit der ich mich am wohlsten fühle.

Mir gefällt die klangliche Symbiose aus klerikal anmutendem Storytelling und abstrakter Elektronik sehr gut. Auf dem Papier hört sich das erstmal als kollosal widersprüchlich an – und doch ergänzen sich die beiden Soundfacetten erstaunlich gut. Wieviel natürlich flow steckt da drin und wieviel Disziplin?
Ich habe irgendwann in den 90er Jahren entdeckt, dass ich erstaunlich gut “sprechen” kann. Ich war mit meiner Band Space Cowboys im Studio und sollte einen kleinen Prolog zu einem Stück schreiben und sprechen. Als ich es tat, wurden alle still und meinten ich hätte mit meiner Sprechstimme eine ungewöhnliche Wirkung. Hypnotisch. Dabei hatte ich mir eigentlich eine Flughafenansage vorgestellt. Seitdem mache ich das oft und gerne. Für Aufnahmen arbeite ich aber trotzdem manchmal sehr lange an Textzeilen bis sie für mich perfekt sind. Es kommt immer auf dem Text an. Ich spiele manchmal auch mit Sprache, das heißt  benutze sie als Klangkörper. Diesen Reiz habe ich in Italien entdeckt: Ich musste vor Jahren einen Italienischen Dichter auf Deutsch vor Italienern vortragen , die sich vorher darüber unterhalten hatten, was für eine harte und hässliche Sprache Deutsch doch sei. So habe ich sie dann so weich und fließend gesprochen, dass alle sehr erstaunt waren und meinten so hätten sie Deutsch noch nie gehört. Sprache ist nichts als Sound und Klang und wenn ich sie mit abstrakter Elektronik verbinde, dann ist es für mich ein Klangkonzert, dass ich arrangiere. Da ist Disziplin wie auch flow im Spiel.

Der Clip präsentiert ja nicht nur deine Musik sondern auch deine Kunst – zumindest nehme ich an, dass sowohl der grafische Rahmen als auch die mit deinem realen Gesicht collagierten Zeichnungen von dir stammen. Sind alle drei Komponenten in direkten Entwicklungsbezug aufeinander entstanden?
Die Bilder und Zeichnungen sind von mir. Ich arbeite interdisziplinär und bewege mich immer auf irgendeiner Weise zwischen Klang, Farbe oder Sprache. Wenn ich eine davon zu lange vernachlässige vermisse ich sie fürchterlich.. Die Bilder habe ich im gleichen Zeitraum gemalt wie ich die Musik komponiert habe.Ich empfinde es als entspannend von einem Medium zum nächsten umzuwechseln. So bekomme ich die nötige Distanz.
Mein neues Album wird zusammen mit einem Katalog meiner Kunst veröffentlicht, da der Verlag Louder Than War dachte, es wäre interessant, mich in meiner Ganzheit zu präsentieren, wofür ich sehr dankbar bin. Deswegen ist mein erstes Video dafür auch so sehr mit meiner Kunst verbunden.

Danielle, was am Videobild sofort auffällt, ist dein Talent direkt in die Kamera zu schauen – also sehr intensiv direkt. Ist das etwas was dir leicht fällt? Und nur in der Anonymität der Kamera oder auch im realen sozialen Austausch mit Menschen?
Vor der Kamera fühle ich mich entspannter als im sozialen Austausch. Ich bin eigentlich ein ziemlich schüchterner und introvertierter Mensch. Die Kamera ist neutral, bei Menschen gibt es immer ein ganzes Universum dass einem entgegenleuchtet. Das finde ich oft überwältigend.

Danielle de Picciotto
“Deliverance”
(Louder than war) 

 

 

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