„No Limit“: Jens Balzers neues Buch über die Neunziger Jahre

Über die Dekade mit dem Arschgeweih

Jens Balzer fotographiert von Sven Marquardt

Die DDR war am Ende und Eurodance der Soundtrack für grenzenlose Euphorie. Die Weichen für das Internet wurden gelegt und Nirvana international erfolgreich. Berlin wurde Techno-Hauptstadt und Kaffeetrinken nun symbolisch aufgeladen. Das waren die Neunziger.  Zur Geschichte gehört aber auch, dass es im ehemaligen Jugoslawien zum ersten Krieg in Europa seit 1945 kam und das wiedervereinigte Deutschland von rechtsextremer Gewalt geprägt war.

Der Autor und Pop-Experte Jens Balzer hat ein Buch über das Jahrzehnt geschrieben, das seit längerem ein Revival in der Pop-Kultur erlebt. „No Limit“ zeigt: Die Dekade war insgesamt weniger fortschrittlich als ihr Image und das antizipierte „Ende der Geschichte“ wohl eine Illusion.

Die Neunziger weisen für Balzer eine „Dialektik der Freiheit“ auf: Zu Beginn dominierte noch ein euphorisches Grundgefühl. Man setzte große Hoffnungen in die Globalisierung, Eurodance und die Techno-Kultur waren der exzessive Soundtrack der frühen Neunziger. Techno sei zudem die erste Sub- oder Jugendkultur gewesen, die ohne Distinktion auskam, schreibt Balzer und hat einen Punkt. Gleichzeitig dokumentiert die Entwicklung dieses Genres in Deutschland, wie schnell sich der politische Kontext der frühen Techno-Kultur (besetzte Häuser dienten etwa als Clubs) auflöste. Mitte der Neunziger kam die Musik endgültig im Mainstream an: Man erfährt, dass das bis heute erfolgreichste Techno-Album in Deutschland nicht etwa von Westbam stammt, sondern von den Schlümpfen. „Tekkno ist cool“ erschien 1995.

Aber Balzer weiß, dass die anfängliche Euphorie um Loveparade und Co. dem Jahrzehnt keineswegs gerecht wird. Im Gegenteil. Rechtsextreme terrorisierten das Land. Später erklärt Balzer auch kurz, inwiefern rechte Netzwerke aus dieser Zeit die rechte Terrorgruppe NSU prägten. In Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda kam es Anfang der Neunziger zu rassistischen Ausschreitungen und rechter Gewalt. In Solingen wurden 1993 fünf Menschen (fünf Familienmitglieder der Friedensbotschafterin Mevlüde Genç) und in Mölln 1992 drei Menschen ermordet.
Erinnert wird in diesem Kontext auch daran, dass es HipHop-Bands mit internationaler Geschichte wie Advanced Chemistry, Fresh Familee oder Microphone Mafia waren, die sich in dieser Zeit mit dezidiert antirassistischen Texten zu Wort gemeldet haben. Advanced Chemistry veröffentlichten 1992 „Fremd im eigenen Land“.

 

Auf einmal hörte man in der BRD Stimmen, die Rassismus nicht nur konkret und weitsichtig thematisiert haben, sondern auch selbst betroffen waren. Sie erreichten ein breites Publikum. Dass Balzer sich relativ ausführlich an Advanced Chemistry abarbeitet, ist nur ein Verdienst seines Buches. Dabei will „No Limit“ gar kein musikhistorisches Buch sein: Es widmet sich zum Beispiel auch dem Aufstieg der Talkshows, die ab Mitte der Neunziger fast täglich im Privatfernsehen liefen. Balzer liest jenes Phänomen so: Die bald schon geskripteten Sendungen dienten manchen Menschen als gute Möglichkeit, sich von der Norm abzugrenzen. Mittlerweile gab es dafür auch optisch mehr Möglichkeiten, die Tattoo- und Piercing-Kultur setzten neue Trends. Stichwort Arschgeweih.

Viele Themenwechsel, viel Material. Aber „No Limit“ läuft nie Gefahr, sich in chronologisch anmutenden Aufzählungen zu verlieren. Das liegt mitunter daran, dass Balzer die strukturelle Verwandtschaft ganz unterschiedlicher Phänomene erkennt: In den Neunzigern versuchen unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Spektren, Außenseiter zu werden (nur die echten Außenseiter wollten keine sein). Und manche verwirklichten sich eben in autonomen Zonen, die leider nicht zwangsläufig progressiv ausgerichtet waren („The kids are not alright“ diagnostizierte etwa Diedrich Diederichsen 1992 anlässlich der rechten Gewalt in einem seiner bekanntesten Essays für die SPEX, die in „No Limit“ wie die Hamburger Schule leider keinen Auftritt hat).

Schnell wird deutlich: Die Neunziger waren insgesamt rückschrittlicher als ihr Image. Aber natürlich verdanken wir auch diesem Jahrzehnt popkulturelle Ikonen. Zum Beispiel die Simpsons, die ab 1991 in Deutschland ausgestrahlt werden: Die Familie aus Springfield wird hier als Musterbeispiel für „eine Kultur des Archivs“ porträtiert, die sich in den Neunzigern etablieren konnte. Überhaupt wurden viele US-Serien populär, aber gerade „The Simpsons“ unterlief als unterhaltsamer Referenz-Pool damals die Dichotomie von sogenannter Hoch- und Popkultur.
Das Buch endet mit einem Kapitel über die Terroranschläge am 11 September 2001. Hier geht es vor allem um die Symbolik der postmodernen Architektur der Twin Tower. Aber schon zuvor geht es kurz um terroristische und antisäkulare Gruppierungen: etwa um die aus einer Yoga-Gruppe hervorgegangene Aum-Sekte, die in den Neunzigern einen Giftgasanschlag in Japan verübte. Balzer schrieb zuvor über die Siebziger und Achtziger. Auch „No Limit“ ist rasante Geschichtsschreibung im Spiegel der Popkultur und zudem gelungener Abschluss seiner sehr lesenswerten Trilogie – absolut empfehlenswert.

Ebenfalls auf kaput erschien: Jens Balzer im Gespräch mit Philipp Kressmann. 

Wer mit der Neunziger-Rückschau fertig ist, könnte sich den „Nullerjahren“ von Hendrik Bolz widmen. In diesem Buch geht es allerdings nicht um internationale Geschichte, sondern um eine Jugend im Osten (in Mecklenburg-Vorpommern), sowie die Entwicklung und Relevanz von HipHop in Deutschland ab dem Jahr 2000. Der Untertitel „Jugend in blühende Landschaften“ spielt auf ein Zitat des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl aus dem Jahr 1990 an, auf das auch Balzer zu sprechen kommt.

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