Live auf der c/o pop 2022

Ein Abend Gewalt – Zwischen Ergriffenheit und Erstarrung

Laute Schreie. Nervenzerfetzende Riffs. Kühle Beats. Ein verzerrter Bass. Lichtgewitter. Aus dieser audiovisuellen Eruption heraus formt sich das Monster Gewalt und nimmt dich mit seinen Krallen gefangen bis der Wahnsinn ein Ende hat. Marc Wilde hat eine Messe der Noise-Band der Stunde besucht. Geschehen ist das im Rahmen der diesjährigen c/o-Pop-Messe in Köln.

 

Fotos: Marc Wilde

Bevor der Höllentanz verklungen ist, kommt das „Paradies“ – ein zehnminütiger Ritt in die Psyche, der von Sänger Patrick Wagner in dem fantastischen, reich illustrierten Begleitbuch zum neuen Album so erklärt wird: „Ich ziehe mich zurück in meinen Wahnsinn, in meinen Krach. Das ist mein Happy Place und Paradies – beängstigend und beängstigend nah an der Hölle.“ Wer sich fragt, wie zum Teufel in der Hölle Glücksgefühle aufkommen können, der ist bei einem Gewalt-Konzert am richtigen Ort. Du kommst dir anfänglich vor wie bei einer Wurzelbehandlung beim Zahnarzt, doch wenn Du loslässt, wirst Du mitgerissen von einem irren Strudel aus Sound und Licht. Du tauchst ein in den dunklen Raum, in die Menge und trittst schlussendlich gereinigt ans Licht. Vor dem inflationärem Gebrauch von Superlativen sollte man sich hüten, aber es ist wahrlich keine Übertreibung: Gewalt schenken Dir einen der intensivsten Livemomente, die derzeit in deutschen Konzertsälen zu erleben sind. Die Tickets gibt es hoffentlich bald auf Rezept, denn diese Form der kollektiven Urschreitherapie, die Gewalt da auf der Bühne praktiziert, hat definitiv einen kathartischen Effekt.

Das Unbegreifliche, das zugleich furchteinflößend und faszinierend ist, haben Religionsphilosophen einst auf diese Formel gebracht: mysterium tremendum et fascinans. Ohne das sich aufdrängende theologische Vokabular überstrapazieren zu wollen – wer das Wirken von Patrick Wagner schon zu Zeiten von Surrogat verfolgt hat, dem klingelt jetzt sicherlich „größer als Gott“ im Ohr –, nicht wenige, die sich am Freitag auf den Weg ins Bürgerzentrum Ehrenfeld gemacht und der musikalischen Messe von Gewalt beigewohnt haben, werden in einen Gefühlstaumel zwischen Ergriffenheit und Erstarrung hineingeraten sein. Mit „Manchmal wage ich mich unter Leute“ legen Gewalt furios los – ein Song, der am Tag des Konzerts als Single veröffentlicht wurde und Patrick Wagner besonders am Herzen liegt. In dem vor dem Auftritt mit der Band geführten Interview verrät er, dass Gewalt nicht ohne Grund das heutige Konzert mit diesem Stück eröffnen. Es sei für ihn vor allem in textlicher Hinsicht ein extrem wichtiges „Kernstück“ des Albums, beschreibt es doch den gleichsam „physischen“ Schmerz, den er empfinde, wenn er im Alltag unter Leute tritt. Etwa wenn er S-Bahn fährt und die Menschen dabei beobachtet, wie sie teilnahmslos auf Handybildschirme starren: „Was da stattfindet, ist nicht mehr normal. Alle machen sich dicht. Warum sitzen denn alle mit dem Handy da? Doch nicht weil sie viel zu tun haben, sondern weil sie es nicht mehr aushalten. Weil die Zivilisation sich so entwickelt hat, dass man nicht mehr in der Lage ist, die Wirklichkeit zu verkraften.“ Auch auf dem Konzert zücken Menschen ihre Handys, ich bin einer davon. Zu verführerisch ist es, den Moment festzuhalten, wo die hellen Blitze zucken, die Gitarren ohrenbetäubend scheppern und gebrüllt wird: „Ich kann fliegen. Kann verschwinden. Ich kann über Wasser gehen. Mich verwandeln. Ich kann die Erde schneller drehen.“

„Verheimlichung“, eines der ersten Stücke im Schaffen der Band, ist für mich ein Highlight des Abends. Überhaupt fällt auf, dass Gewalt auf dem c/o pop Festival einen ausgewogenen Mix aus ihrem bisherigen Werk präsentieren: die älteren Singleveröffentlichungen sind diesmal im Unterschied zum Auftritt im Artheater vom Oktober letzten Jahres auch mit im Programm. Das wird diejenigen, die damals in Köln die „rockigen Riffs“ vermisst haben, besonders gefreut haben. Und in der Tat entfesseln Gewalt in Songs wie „Limiter“ ihre ganze Kraft. Wer da noch still stehen bleibt, in dem tobt entweder trotz äußerlicher Erstarrung ein Feuer im Innern oder der ist für diese Art von Gewalt einfach nicht empfänglich. Macht aber auch nix. Dann kann man sich auch immer noch von den Worten gefangen nehmen lassen, die den Konzertbesucher*innen um die Ohren fliegen.
Vielleicht ist es der Studentenstadt Köln geschuldet, aber das habe ich so auch noch nicht erlebt, dass Leute sich mit Zettel und Stift während des Konzerts Notizen zu den Texten machen. Aber warum nicht, sie sind es ja wert.

Was jede*r spürt: die Songs von der aktuellen Albumveröffentlichung reihen sich nahtlos in das Set ein; es gibt keinerlei Brüche. Das Konzert, die Band, alles präsentiert sich als Einheit. Und das am ersten Abend der Tour, die die Band in den nächsten sieben Wochen in 25 Städte und fünf Länder führen wird. Dass sich dieser – man es wagt es kaum auszusprechen – „harmonische“ Gesamteindruck einstellt, ist nicht selbstverständlich. Denn mit dem neuen Album „Paradies“ setzen Gewalt zumindest musikalisch andere Akzente: Die weiblichen Stimmen der Band stehen nun deutlicher im Vordergrund; und Form und Inhalt gehen eine tiefere Verbindung ein. Der Drum-Computer gibt in mehrfacher Hinsicht den Takt vor, es scheint fast so als würde sich der Mensch der Maschine unterordnen und nicht umgekehrt: „Wir sind nur Dinge unter Dingen“. Mit dieser artifiziellen, kühlen Ästhetik rücken Gewalt mehr und mehr in die Nähe von DAF und Kraftwerk. Das mag sperriger erscheinen, ist es aber an diesem Abend überhaupt nicht. Als Patrick Wagner und Helen Henfling am Ende des epischen „Wir sind sicher“ ihren Gitarren das letzte Feedbackfiepen entlockt haben, als der pulsierende Bass von Jasmin Rilke sich sanft zur Ruhe legt und der stupide dahingleitende Elektrobeat verhallt ist, bleiben jedenfalls keine Fragen offen. Oder es stellen sich einfach keine mehr. Was bleibt, ist ein Kniefall.

Text: Marc Wilde

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