Anti-Pathos-Pathos at its best mit Gewalt & Pharmakon
Gewalt
„Doppeldenk”
(Clouds Hill/ADA Worldwide)
Pharmakon
„Maggot Mass”
(Sacred Bones/Cargo)
Da ist ein riesiger Raum zwischen Schwarz und Weiß. Da kannst du mit arbeiten oder mitarbeiten. Grau ist das neue Gold. Pfand ist das neue Gold (Gewalt). Eine Peitsche, eine Klinge, ein Hammer, ein Bohrer, ein Waschbrett.
Was ich an Pharmakon und Gewalt sehr, sehr mag, ist diese Direktheit, diese Wucht, ohne tumb oder populistisch daher zu kommen. Nein, das hier ist reflektierter Schrei. Das hier hat Spaß im und am Zorn und scheint, im Extremen, auch über sich selbst lachen oder besser schmunzeln zu können. Daran glaube ich. Also quasi-religiös – bestenfalls.
Selbst als geschulter und reflektierter Konstruktivist ist die Orwell’sche Formel vom Doppeldenk nicht ganz einfach zu verstehen, geschweige denn zu vollziehen und ähnlich verschlauft wie unsere Leben: Tutorial für einen neuen Verstand. Ich sammle Punkte, das hat man mir an der Kasse so gesagt. Im Grunde ist das ja nicht ganz so „Schwarz Schwarz“, denn an der Kasse wird noch gesprochen und nicht nur decodiert. Noch. So beginnt der ganze Strudel.
Patrick Wagner, Helen Henfling und (leider aktuell nicht mehr) Jasmin Rilke haben sich von ihren ersten, noisigen phantastischen Singles wegbewegt. Der schrille Groll bleibt. Es wird durchaus opulenter, klingt noch mehr in Richtung 303, Techno, Industrial und Electro und weniger nach einem deutschen Steve Albini, David Yow oder der Hardcore-Drecksvariante von den Nerven, Raison, Fehlfarben oder Karies.
“Fuck, ich muss hier raus“ auf „Das kann ich nicht“ steht für unser aller Gefühl des Nicht-Mehr-Aushaltens, fragt mal die Jüngeren und die ganz Alten. Auch hier eröffnet sich ein weiter Raum des Zusammen, des Neuen, des Progressiven. Und mit „Ein Sonnensturm tobt über uns“ spüre ich sie, die Zukunft, den Weg, jenseits aller Fundamentalist*innen. Es geht voran. Bis der Arsch im Sarge liegt.
Hm, Gewalt bewegt sich, erst war ich bei Songs wie „Jemand“ doch arg an EBM-Acts, DAF oder Stabil Elite erinnert. Aber im Gesamtgewand der Gewalt passt das schon im wahrsten Sinn des Wortes. Mir gefallen die nicht ganz so stramm marschierenden Songtracks/Tracksongs besser, wohl wissend um die Gleichzeitigkeit von diversen Ebenen und (Selbst-)Aufs-Maulhaftigkeit.
Zudem haben Gewalt mittlerweile gnadenlos, wie sie sind, den Tanzboden, entdeckt, der auch mal in leichten Gothic oder Wave rüber rutscht oder stampft. Inklusive Ausblenden. „Wir sind kaputt, die Götter verrückt“ auf – nun ja – „Felicita“, inklusive Saxophon, Trümmer, Stücke, Gräber, Fetzen auf „Monolog einer Drone“. Wo auch immer das H darin geblieben ist, wir alle rennen brüllend in den Abgrund. Ist ja irgendwie auch ganz schön und bergauf. Bringt die Haltung dieser Band auf den Punkt.
Also, ich hab den Doppeldenk-Hoodie an. Wieder so ein Kleidungsstück voller unterschiedlicher Deutungsmöglichkeiten. Ohne jemandem etwas wegzunehmen, sondern voller Bereitschaft auf ein Morgen, sind wir doch alle ein Stückweit „Trans“ im gewaltigen Sinne von transzendent und tanzend. Ein Rausch. Ein Klirren. Ständig herumspringen, laufen, fallen und mit vielen anderen in Berührung. Die gar nicht oberflächlichen, sondern mitten in Herz, Hirn und Bauch gehenden Slogans der Gewalt bleiben die originellsten und bittersten seit und mit den Goldenen Zitronen. Oder seit Kristof Schreuf kultürlich. Meine Party ist der Text – mitunter. Und Wagners alte Band Surrogat nochmal wieder hören und in die dystopische Utopie blicken. „Ne Ne, alles gut“. Definitely not. Nichts ist OK. Tolles, funkelnd perlendes Finale. „Ich bin ja kein Nazi, aber sollen wir alle aufnehmen?“, singt-kreischt dort Wagner zynisch, wie immer gehetzt und mindestens in gefetteten Anführungsstrichen. Verzerrtes Grinsen.
So ein ähnliches Gesicht machten viele (und wohl auch ich) vor einigen Jahren auf dem feinen „Madeiradig“-Festival im Atlantik, als die 1990 geborene New Yorker Musikerin und Performerin Margaret Chardiet aka Pharmakon uns ausgesprochen charmant in einem postmodernen Museums-Hörsaal verprügelte. Inklusive körperlicher Action und Stieg durch das Publikum mit Anbrüllen. Wunderbar.
Ihr neues Album riecht akustisch nach Fliegen, nach Verwesung. Zwischen zweieinhalb und über zehn Minuten. Wie schwärende Wunden, wie eitrige Schreie, ostentativ böse oder verzweifelt, höre „Wither and Warp“. All das schleudert uns Pharmakon entgegen und schließt damit an die luzid schlechte Laune von Gewalt direkt in meinem DJ-Mindset an. Auf Madeira waren auch Freunde von mir begeistert, die, nun ja, eher keinen Zugang zu sowas und auch keine popmusik-rezeptive Industrial- oder Experimentier-Vergangenheit hatten. Pharmakon baut da Schichten von Gezappel und Gekrache auf, die weh tun und doch umarmen. Irgendwie. Mir gefällt das. Ganz unkonträr fasziniert. Das kommt aus dem Inneren, das geht ganz tief. Kellergeschoss der Gefühlswelten. Aber wie bei der Horrorserie „Stranger Things“ kann man ja die ganze Welt auch einfach umdrehen.
Auf der Aftershow-Party auf Madeira konnte man einst dann nett mit Margaret plaudern. Das therapeutisch zu nennen, wäre wohl etwas zu egozentrisch. Aber Pharmakons bestialische Stücke fräsen sich durch einen hindurch, nachdem sie drinnen angekommen sind. Quietsch. Der kleine Kumpel Tinnitus ruft um Hilfe und weint nur noch auf „Buyer’s Remorse“. Und doch… Laut eigener Auskunft im Infosheet beklagt Chardiet hier Abscheu, Trauer, Ökosystem Kadaver und den Verlust auf persönlicher (Schicksalsschläge, Tod) und globaler (Kapitalismus, Verschwendung) Ebene und sehnt sich nach Wiedergeburt, wenn hier auch alles nach Ende(n) klingt. Geschepper, aber nicht indie-schrabbelig, sondern zentnerschwer. Wenn Maden aus Metall wären…
Zweimal Anti-Pathos-Pathos at its best, das hier. Saxophon, Lärm und Gutturales gehen doch noch wieder. Zudem krame ich nun wirklich mal neben Noise Rock auch wieder die unpeinlichen Industrial-Sachen heraus, selbst die alten, frühen Laibach, sowieso Throbbing Gristle und auch die dunklen Welten von Lydia Lunch oder Suicide kommen wieder in Erinnerung, wenn Pharmakon sich mächtig quält und uns schon auf eine gewisse Art läutert oder erlöst. Wenn uns nicht schon eine große Liebe wärmt und tröstet. Was für ein sperriger, unchristlicher Beichtstuhl:
„Schwarz. Blackout. Weiß. Whiteout. Schwarz. Blackout. To black out. Wir alle kennen den Blackout. Plötzlich ist alles weg. Dunkel. Schwarz. Erinnerungsverlust. Blackout meint aber noch mehr. Versagen technischer Systeme. Versagen physiologischer Systeme. To black out [Hervorhebung im Original, C.J.] meint Zensur. Auslöschen von Information. Blackout ist auch Vergessen. Auslöschen von Erinnerung.“ (Mikael Mikael (2015): Blackout. Berlin: Merve, S. 6, siehe auch http://www.dieaufhebung.de/so-far-from-now-on-6/)