Die zehnte Ausgabe der Night of Surprise – Ein Gespräch mit Thomas Gläßer

Individuelle Handschrift & kollektive Kuration

Violent Magic Orchestra, Night of Surprise 2023 (Photo: Niclas Weber)

 

Seit einem Jahrzehnt ist die Night of Surprise ein jährlicher Fixpunkt im Programm des Stadtgartens. Das ursprünglich von Thomas Gläßer alleine, mittlerweile mit Team kuratierte Festival verbindet Experiment und Improvisation, Jazz und Elektronik.

Kaput hat mit Thomas Gläßerüber kollektive Kuration, Lieblingsmomente, die Kraft des Nichtwissens und den Zauber eines Publikums gesprochen, das sich noch überraschen lassen will.

 

Zehn Jahre Night of Surprise. Gratulation. Welche Edition war bis dato deine liebste – und warum?

Thomas Gläßer (Photo: Benjamin Kuntz)

Thomas Gläßer: Vielen Dank für die Glückwünsche! Unsere erste Ausgabe der Night of Surprise hat am 10. Oktober 2014 stattgefunden. Unser zehnter Geburtstag war also letztes Jahr; dieses Jahr feiern wir – nach der Pandemiepause im Jahr 2021 und dem Pandemieformat Week of Surprise 2022 – unsere zehnte Ausgabe, mit der wir gleichzeitig vor- und zurückschauen wollen.

Ich habe tatsächlich mehrere Lieblingsausgaben: Natürlich die erste, die auf ganz verblüffende Art eingeschlagen hat – und bei der ich wegen einer schweren Erkrankung in der Familie nicht dabei sein konnte. Die Stadtrevue schrieb damals: „Dieses Festival ist in der Tat A Night of Surprise. Da haben die Macher mal eben einen Experimental-Jazz-Noiserock-Elektronik-Kracher aus dem Boden gestampft, dass einem die Kinnlade runterfällt. Und: Das Ganze ist auch noch umsonst!“

Damals waren unter anderem die famosen New Yorker Zs, Ava Mendoza und das Kölner Projekt The Nest mit Christoph Clöser (Bohren & der Club of Gore), Thomas Mahmoud und Desmond Denker, das wilde Contemporary-Jazz-Trio des Saxophonisten Wanja Slavin mit dem Bassisten Petter Eldh und Schlagzeuger Christian Lillinger, die bezaubernde Torch-Song-Trans-Performerin Baby Dee, der wunderbare schottische DIY-Noise-Musiker Dylan Nyoukis und die Ausnahme-Sopranistin Donatienne Michel-Dansac mit den Recitations von George Aperghis zu Gast. Irgendwie kam sofort auf den Punkt, was wir sagen wollten: aktuelle, mutige, abenteuerlustige Musik als ein wilder, bunter, aufregender Garten, der sich ständig weiterentwickelt und neue Blüten treibt.

Eine weitere Lieblingsausgabe war 2018, weil da fast alles aufgegangen ist – ein Glücksfall auf allen Ebenen: von Organisation und Laufruhe bis zu Atmosphäre, atemberaubenden Programmhighlights und tollen Zufällen und Begegnungen. Das war für mich die erste Night of Surprise, die richtig explodiert ist – mit grandioser Stimmung bei allen Beteiligten und hunderten von Besucher:innen, die den Stadtgarten noch in den frühen Morgenstunden umlagert haben.

Zu Gast waren damals unter anderen der Folksänger Sam Amidon, der mit einem Kölner Streichquartett zusammengearbeitet hat, der Dudelsackvirtuose Erwan Keravec mit einem Quartett traditioneller Pfeifer und zeitgenössischen Kompositionen, umjubelte Auftritte der UK-Underground-Ikone Lolina und des tunesischen Produzenten Ammar 808, ein Clubprogramm, bei dem mit DJ Marcelle, Nidia und Equiknoxx ein Höhepunkt den anderen abgelöst hat.
Das jamaikanische Produzententeam Equiknoxx war damals nach einer abgesagten UK-Tour für eine ganze Woche in Köln gestrandet und hat das WDR-Cosmo-Team so verzaubert, dass die drei eine Woche lang jeden Tag bei Cosmo live on air zu Gast waren.

Und ebenfalls unter meinen Top 3 ist die Ausgabe 2023, weil man da ganz klar gespürt hat, dass das Festival nach der Pandemie mit neuer Kraft und neuen Ideen zurückkommt und neue Wege einschlägt – zumal sich die große kleine Welt der Musik und die große Welt außen rum seit 2014 so enorm verändert haben. Aber tatsächlich bleiben aus jedem der elf Jahre leuchtende Erinnerungen.

Kill Alters, Night of Surprise 2023 (Photo: Niclas Weber) 

Das Programm 2025 basiert auf Vorschlägen früherer Künstler:innen. Wie koordiniert man 400 Ideen?

Die Idee ist tatsächlich sehr gut aufgegangen. Wir wollten das Jubiläum zum Anlass nehmen, die zehn Festivalausgaben – für das Publikum, die Künstler:innen und uns – als Netzwerkprozess sichtbar zu machen: das Wissen, die Netzwerke und Ideen der Künstler:innen in einer Art „Cloud Curation“ zusammenfließen zu lassen – und damit auch die fast natürliche Gravitation hin zu einer wachsenden Rolle von Agenturen in unserer Programmarbeit zu unterlaufen. So viel Feedback, Wertschätzung und Ideen aus allen möglichen Kontexten zu bekommen – von internationalen ästhetischen Wahlverwandtschaften bis zu verborgenen lokalen Netzwerken, von indonesischer Elektronik bis zu mir gänzlich unbekanntem mediterran-transkulturellem Folk aus Südfrankreich oder Kölner Entdeckungen internationaler Kolleg:innen, war ein sehr ermutigender und inspirierender Rausch.

Es kommt ja nicht ständig in den Nachrichten, dass überall auf der Welt Leute so schöne, aufregende, friedliche und auf fast störrische Art lebendige Dinge tun. Wir – das waren in diesem Jahr Co-Kurator Kieran Kaul und ich – haben tatsächlich alle Vorschläge sorgfältig und oft mehrfach angehört, um ein Gespür für alle zu bekommen – und das hat vor allem mich für lange Zeit in eine andere Umlaufbahn geschossen, die die Motivation, dieses Festival zu machen und Konzerte zu veranstalten, von Grund auf erneuert hat.
Aus diesem Kosmos an Möglichkeiten dann wieder zu landen, Möglichkeiten ziehen zu lassen und ein einigermaßen schlüssiges Programm zu konstruieren, das nur etwa 5 % der Vorschläge berücksichtigen konnte, war herausfordernd. Wir haben dazu aus den über 400 Programmideen eine Shortlist der besonders beeindruckenden Beiträge erstellt, die noch nicht in Köln zu hören waren, und dann nach Vielfalt, programmdramaturgischen Überlegungen und Verfügbarkeit gefiltert – und hatten Glück, dass fast alle unsere Wunschkünstler:innen Zeit hatten. Von den „Outtakes“ werden wir noch mehrere Jahre zehren – wir können uns bei den Künstler:innen nur immer wieder für ihre Großzügigkeit bedanken.

Wie gesagt: Die kuratorische Verantwortung gibst du dieses Mal ein Stück weit an die Künstler:innen zurück. Ist das auch ein Statement zur Rolle von Festivals im Allgemeinen – hin zu mehr Kollaboration und weniger „Top-down“-Kuration?

Im Grunde ist unser diesjähriger Kurationsansatz der Versuch, das Gestalten von Programmen aus freundschaftlichen, von gemeinsamen ästhetischen Prinzipien geleiteten, künstlerisch geprägten Gemeinschaftskontexten heraus auf ein größeres Festivalformat hochzuskalieren. Das Le Guess Who?-Festival in Utrecht versucht mit der Vergabe von Teilkurationen an Künstler:innen im Grunde etwas Verwandtes. Und nach unserem ersten eigenen Versuch halte ich diesen Gedanken für ausbaufähig.

Aber ich sehe Vor- und Nachteile in allen kuratorischen Ansätzen: individuelle Autorschaft und Handschrift können sehr präzise werden und auch diskursiv und konstellativ eine Genauigkeit ermöglichen, die in kollektiveren Kontexten nur schwer möglich ist. Dafür haben sie manchmal Probleme damit, Geschmacksvorlieben zu überschreiten, ästhetisch wach zu bleiben und sich fortlaufend zu erneuern. Aber beide Modelle – individuelle kuratorische Autorschaft und die Verankerung von Programmen in kollektiv geteilten künstlerisch-ästhetischen Werten oder einer Pluralität solcher Wertesysteme – finde ich in der Tendenz attraktiver als den Ansatz einer Art demokratisch-repräsentativen „Jurierung“ von Programmen, ähnlich wie bei Preisen, die nivellieren und feinere Unterschiede überspielen könnende.

Ryan Wrens, Night of Surprise 2024 (Photo: Niclas Weber) 

Welche Kriterien spielen für dich am Ende doch eine Rolle: dramaturgische Bögen, stilistische Vielfalt, Überraschungsmomente, persönliche Begeisterung?

Mein Problem mit Musik ist – und ich betrachte das mit der gebührenden Ambivalenz auch als Glück –, dass ich immer noch und immer wieder darin verloren gehe. Das Einräumen und immer wieder Neu-Entdecken des eigenen Nichtwissens und Nichtverstehens spielt daher eine große Rolle bei der Programmarbeit, vor allem bei der Night of Surprise.
Gemeint ist kein ignorantes Staunen, obwohl mir das auch wichtig erscheint, sondern ein geduldiges Aufspüren von Aussagekraft, Rätselhaftigkeit, Eigenwilligkeit, idiosynkratischer Authentizität, Oberflächenreiz und so weiter. Musik kommuniziert auf so vielen Ebenen und nimmt auf so verschiedene Arten Bedeutung an, dass ich es gerade beim Programmieren der Night of Surprise wichtig finde, immer wieder die Wahrnehmungsebenen zu wechseln und verschiedene Werte- und Bewertungssysteme nebeneinander zuzulassen.

Ich muss zugeben, dass eine strenge und gründliche Materialanalyse dabei eher eine untergeordnete Rolle spielt, sondern eher die Frage in den Vordergrund rückt, ob und warum sich ein erster Reiz beim Weiterhören, Verstehen und Nichtverstehen verbraucht oder vertieft. Neben dieser ersten Filterung spielen natürlich alle genannten Motive eine Rolle, die du benennst: Vielfalt auf allen Ebenen, Überraschungsmomente, vordergründige Differenz genauso wie persönliche Berührtheit, eigenwillige Erfindung wie individuelle Tiefe oder Überzeugungskraft.

Thomas Gläßer (Photo: Kieran Kaul)

Night of Surprise versteht sich immer auch als Plattform für Experimente jenseits etablierter Strukturen. Wie hat sich deiner Beobachtung nach die Offenheit des Publikums für solche Formate im Laufe der Jahre entwickelt?

Das Publikum war von Anfang an sehr offen, aber ich habe den Eindruck, dass die umgebende musikalische und kulturelle Landschaft – nicht nur in Köln – seit 2014 ein ganzes Stück aufgeschlossener, diverser und kenntnisreicher geworden ist. Die Differenz, die die Night of Surprise markiert, scheint mir im Vergleich zu den ersten Jahren also etwas weniger außergewöhnlich geworden zu sein.

Gleichzeitig höre ich immer wieder mal Kritik an unserer Politik des freien Eintritts, die davon ausgeht, dass dieser niederschwellige Zugang eine Entwertung bedeuten könnte. Ich glaube, dass das in manchen Köpfen tatsächlich auch so stattfindet, aber ich finde die Niederschwelligkeit weiterhin ein ganz wichtiges Merkmal unseres Ansatzes: eine Welt voller Nischen, Idiosynkrasien und Wunder für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen, ohne dabei Zielgruppenerwartungen und Marketinglogiken erfüllen zu müssen.
Nur so kann es meines Erachtens gelingen, weiterhin ein wirklich heterogenes Publikum zu erreichen. Wir wollen die Tendenz vielen „Kulturkonsums“ zur identitären Selbstbestätigung und Distinktion so weit unterlaufen, wie es unser – zugegeben besonderer – Gegenstand ermöglicht.

Super finde ich, dass du Horse Lords & Arnold Dreyblatt eingeladen hast, die ja gerade eine FRKWYS auf RVNG Intl. veröffentlichen. Vielleicht kannst du ja zu den Künstler:innen, die du 2025 abseits der Zuträgerideen von den Musiker:innen der letzten zehn Jahre eingeladen hast, etwas sagen.

Die Horse Lords haben mich bereits vor Beginn ihrer Zusammenarbeit mit dem Komponisten Arnold Dreyblatt darauf angesprochen, bei uns im Stadtgarten zu spielen. Da sich die Auseinandersetzung mit Mikrotonalität und abweichenden Stimmungssystemen zu einem der roten Fäden der Night of Surprise und meiner sonstigen Programmarbeit entwickelt hat – mit Künstler:innen wie Catherine Lamb, Mustafa Said, Siegfried Koepf und Bernhard Härpfer, Judith Hamann, Thomas Ankersmit oder Nancy Mounir – passt die Faszination der an diesem Projekt Beteiligten für „open tunings“ und reine Stimmung sehr gut zur Night of Surprise.
Und da sich die Veröffentlichung des Albums etwas hingezogen hat, war die Zeit für das Konzert nach zwei erfolglosen Anläufen 2023 und 2024 erst in diesem Jahr reif.

Ansonsten gehen von den 22 Acts nur zwei weitere nicht auf Programmvorschläge der Musiker:innen vergangener Night of Surprise-Ausgaben zurück: einmal das Late-Night-DJ-Set von Ziúr, die wache, eigenwillige, bewegliche und atmosphärisch lebendige DJ-Sets spielt, bei denen man die Ermüdungserscheinungen der Clubmusik umstandslos vergisst.
Und ein besonderer Glücksfall: Der herausragende französische Kontrabassist Florentin Ginot, seit 2015 Mitglied des Kölner Spitzenensembles für zeitgenössische Musik Ensemble Musikfabrik, wird bei uns sein ganz neues Live-Setup für Kontrabass und Elektronik erstmals im Konzert erproben.

Ich möchte aber gerne auch noch auf eine Handvoll weiterer Höhepunkte hinweisen, die man auf keinen Fall verpassen sollte – insbesondere die Preludes ab 16 Uhr in der Christuskirche:

Die Interpretation des grandiosen Miniaturen-Zyklus Kafka-Fragmente von György Kurtág durch Donatienne Michel-Dansac und Igor Semonoff (18 Uhr, Christuskirche, Dorothee-Sölle-Platz); die weiteren drei Preludes mit dem Instrumentenbauer-Performer Lukas De Clerck und seinem faszinierenden „telescopic aulos“ (16 Uhr, Christuskirche); das mikroskopische Tief- und Differenzton-Duo John McCowen & Madison Greenstone mit Musik für zwei Kontrabassklarinetten (17 Uhr, Christuskirche); und als krönender Abschluss die neue Zusammenarbeit des norwegischen Gitarreninnovators Stian Westerhus mit der Videokunst-Koryphäe Frieder Weiss (19:30 Uhr, Christuskirche).

Und als exemplarischer Gegenpol am anderen Ende des Spektrums: UK-Underground-Rising-Star Florence Sinclair, die amphibischen Polyrhythmen von Lechuga Zafiro sowie die berührenden italienischen Widerstands- und Liebeslieder von Silvia Tarozzi & Deborah Walker – oder die lokalen Improv-Bilderstürmer von Placebo Domingo.

HJirok & Hani-Mojtahedy, Night of Surprise 2024 (Photo: Niclas Weber)   

Welches Festival hat dich 2025 bisher beeindruckt?

Es war für mich – wegen großer familiärer und beruflicher Herausforderungen – ein sehr ruhiges Konzert- und Festivaljahr bis jetzt. Ich kann hier eigentlich nur mit drei Festivals dienen, die ich verpasst habe, aber sehr, sehr gerne erlebt hätte: das Hamburger Festival Papiripar, auf das ich erst durch die Programmrecherche für die Night of Surprise gestoßen bin; das Rewire Festival in Den Haag, das immer interessanter zu werden scheint und in Struktur und Ausrichtung eventuell als Blaupause für ein neues Festival für aktuelle Musik in Köln dienen könnte; und – verzeih mir das Kompliment, da du selber involviert warst – die Monheim Triennale, die nach allen Berichten, die auf verschiedenen Wegen bei mir angekommen sind, in diesem Jahr auf erstmals entspanntere Art bei sich angekommen zu sein scheint.
Viele Ideen, die hier ausprobiert werden und an deren erste Diskussion mit Reiner Michalke ich mich noch gut erinnere, brauchen und verdienen Zeit – und haben das Potenzial, wichtige Impulse für das Verständnis davon zu setzen, was ein Festival mit entsprechenden Ressourcen ermöglichen und leisten kann.

Daneben freue ich mich in Köln – neben der erneut gelungenen Jazzweek und dem im Aufwind befindlichen ZAMUS Early Music Festival – besonders auf das Week-End-Festival und auch auf das wirklich spannende IMPAKT-Festival in der Christuskirche, gleich am Wochenende nach der Night of Surprise.

Deine Entdeckung 2025?

Bleibt mein Geheimnis – hoffentlich bei der Night of Surprise 2026 zu hören.

HiTech, Night of Surprise 2024 (Photo: Niclas Weber) 

 Und dein größter Wunsch für die Zukunft?

Einerseits natürlich eine stabile Finanzierungssituation, die zumindest in Teilen eine mehrjährige Planungssicherheit mit sich bringt. Andererseits glaube ich, es könnte bald Zeit für die Night of Surprise werden, sich zu verwandeln, sich anders in der Stadt zu entfalten – auch in Zeit und Raum –, die passenden Rahmen für neue, teils transdisziplinäre Formate und Setups zu finden und zusätzliche Kooperationen einzugehen, auch über die eine Nacht im Jahr hinaus.

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