„Potosí-Prinzip-Archiv“ – Interview mit Alice Creischer & Andreas Siekmann – Akademie der Künste der Welt

„Wir verfolgen viele Dinge aus dem Bedürfnis heraus, Geschichte umzuschreiben“

 Andreas Siekmann (li), Alice Creischer & Max Jorge Hinderer Cruz (Photo: Katja Illner)

 



Die Idee, ein Archiv über das Potosí-Projekt zu erstellen, entstand, so die Künstler:innen und in diesem Fall Projektleiter:innen Alice Creischer und Andreas Siekmann, auf Anregung des Kuratoren beim Haus der Kulturen der Welt, Berlin, Anselm Franke im Mai 2017. Wobei den beiden schnell klar war, dass es kein Archiv im klassischen Sinne werden sollte, vielmehr wollten sich Creischer und Siekmann den blinden Flecken der ursprünglichen Ausstellung „Das Potosí-Prinzip“ (die sie zusammen mit Max Jorge Hinderer Cruz, dem heutigen Künstlerischen Leiter der Akademie der Künste der Welt umgesetzt hatten) und den daraus resultierenden Folgefragestellungen widmen. 

Der Titel der Originalausstellung verweist auf die Stadt Potosí, die, auf dem Gebiet des heutigen Boliviens gelegen, das Zentrum eines der wichtigsten Silberabbaugebiete der Welt zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert war. Potosí diente dem Trio als Impuls, um ökologische Fragen der Ausbeutung der Natur anzudenken, die Aufarbeitung der kolonialen Ausbeutung Südamerikas durch die Europäischen Handelsnationen aufzuarbeiten und die aus diesen Prozessen entstandenen Auswirkungen auf den globalen Wirtschaftskreislauf zu hinterfragen.

Man könnte auch sagen: anhand der Beschäftigung mit Potosí legten Creischer, Hinderer Cruz und Siekmann die Erkenntnis frei, dass die Herausbildung der Moderne und die Prozesse der Globalisierung und somit die Genese der Europäischen Industrialisierung und des Bankenwesens nicht ohne Unterdrückung und Ausbeutung eines anderen Kontinents möglich gewesen wären.
Das Ergebnis der intensiven Recherchearbeiten von Alice Creischer und Andreas Siekmann manifestiert sich nun in einem Ausstellungs-Archiv, das um vier Projektfragen rotiert: die Frage nach der primitiven Akkumulation, die Frage nach den Menschenrechten, die Frage nach der Rolle der Kunst und die Frage nach der verkehrten Welt, für die Ausstellung und darüber hinaus in 36 Broschüren in Form gebracht.

Thomas Venker traf Alice Creischer und Andreas Siekmann in den Ausstellungsräumen der Akademie der Künste der Welt für einen Rundgang durch „Potosí-Prinzip-Archiv“ und ein mehrstündiges Gespräch.

Photo: Katja Illner

Alice, Andreas, was hat Euch dazu gebracht, die von Euch gemeinsam mit Max Jorge Hinderer konzipierte und umgesetzte Ausstellung, die 2010/2012 im Reina Sofia Museum in Madrid, im Haus der Kulturen der Welt in Berlin und im Museo nacional de Arte sowie im MUSEF in La Paz gezeigt wurde, nun mit einem Archiv aufzubereiten? 

Alice Creischer: Die Ausstellung wurde in den vergangenen zehn Jahren ausgiebig diskutiert. Es war damals sehr ungewöhnlich, dass die Ausstellung nicht nur hier gezeigt wurde, sondern auch in La Paz – Ausstellungen vom sogenannten “Globalen Süden” werden oft in Europa gezeigt, gehen aber kaum mal zurück an die Orte, aus denen die Kunstwerke sind, , beispielsweise nach Südamerika. 
Die damalige Ausstellung zeigte koloniale Gemälde und die Arbeiten gegenwärtiger Künstler:innen, die darauf antworteten. Es war meiner Ansicht nach eine der ersten Ausstellungen, die einen postkolonialen Diskurs verfolgte. Das war uns so am Anfang gar nicht bewusst, dass kam erst durch die Auswahlpraxis der Arbeiten sowie die Diskussionen zwischen den Künstler:innen und uns – beides führte zu einem Echo in Bezug auf die postkolonialen Diskussionen.

Andreas Siekmann: Der postkoloniale Diskurs war bis dahin ein Campus-Phänomen und kannte keine Praxis. Die Kolonialgemälde, die wir ausgewählt haben, sind zum ersten Mal in einem Kunstkontext gewandert. Die Bilder, die im Europäischen Auftrag und nach Europäischen Vorlagen in den Kolonien gemalt wurden, waren für unsere Form der Geschichtsschreibung keine Kunst, sie kamen höchstens in ethnologischen Sammlungen vor, aber nicht zirkulierend. Diese Bilder nach 300 Jahren in einem Kunstkontext und dann auch noch im Museum Reina Sofia in Madrid zu zeigen, das war neu. 90 Prozent dieser Bilder waren anonym gemalt, hatten keinen Adressaten,. Eigentlich war die Malerei des Barock in ihrer Präsens in den Kolonien (in Südamerika, den Philippinen) der erste globale Malstil, aber diese Bilder waren von der Kunstgeschichte vergessen worden.

Konntet ihr damals unterschiedliche Reaktionen auf die Ausstellung in den drei Ländern erkennen? 

Andreas Siekmann: Die Ausstellung wurde sehr unterschiedlich wahrgenommen an allen drei Orten. In Spanien stieß sie eine Aufarbeitung der kolonialen Geschichte und der Restitutionsfragen an, in Berlin traf sie besonders auf postkoloniale Rezeption, in La Paz wurde sie als Ergänzung zur dekolonialen Praxis und Theorie der damaligen Regierung wahrgenommen. Es war uns wichtig, dass die Ausstellung von Berlin wieder nach La Paz ging, weil das normalerweise nie der Fall ist und das Prinzip von wissenschaftlichen und kulturellen Extraktivismus institutionell widerspiegelt. Da muss man viele institutionelle Hürden überwinden.

Wobei diese Diskussionen bereits Teil des Aufklärungsprozesses sind, den ihr mit der Ausstellung verbindet. 

Andreas Siekmann: Die Institutionen bekam damals Gelder aus der EU, die 2011 das 200jährige Jubiläum der sogenannten Befreiung Südamerikas feierte, das heißt der Bildung in Nationalstaaten mit einer spanischen oder Mestizenelite. In Bezug auf das Ausleihen der Bilder aus Bolivien stellten wir schnell fest, dass wir viele Bilder, die wir wollten, gar nicht bekamen. Einmal, wegen der Größe mancher Bilder, besonders der Bilder, die Teil eines Postrimeria Zyklus sind, d.h. Bildgeschichten, die über den Tod, das Gericht und die Hölle gehen und die die Kirchenwände einiger Gemeinden in der Nähe des Titicacasees komplett ausfüllen. Das cineastische Format sollte genau so wie die Schilderung der Hölle die Menschen einschüchtern. Die Bilder dienten einem Umerziehungsprogramm, sie waren dazu da, die indigene Kultur und Weltanschauung auszulöschen. Diese Bilder waren schon wegen ihrer GRöße schwer zu transportieren.

Alice Creischer: Hinzu kommen die schwierigen Verhandlungsprozesse mit den Gemeinden. In Bolvien haben die indigenen Gemeinden Mitbestimmungsrecht über ihre kulturellen Güter. Aber eine Ausstellung im Reina Sofia Museum in Madrid ist vollkommen bedeutungslos für diese Gemeinden. Stattdessen gab es handfeste materielle Forderungen, zum Beispiel Hochlandtraktoren oder Strom.

Andreas Siekmann: Hinzu kommt, dass es Ängste gab, wir könnten die Arbeiten nachmalen und Kopien zurückgeben. Das erzählt viel. Ein Großteil der Kolonialgemälde befinden sich heute in der Sammlung US-amerikanischer Eliteuniversitäten oder in europäischen ethnologischen Museen.

Alice Creischer: Wir sind in Bolivien während des Auswahlprozesses auf eine grundsätzliche Skepsis gestoßen und darüber hinaus sind wir konfrontiert worden mit unserem eigenen kuratorischen Blick. Einmal besuchten wir eine Kirche in einer kleinen Gemeinde und äußerten unser Interesse an einem Bild. Danach verschwand es. Denn unser Blick als europäische Kuratoren ist ein Wertschöpfungsblick . 
In Europa zeigte sich die andere Seite dieser Medaille: Für unsere Ausstellungen in Madrid oder in Berlin hätten wir durchaus Bilder oder Objekte vom Museo de las Americas in Madrid oder vom Ethnologischen Museum in Berlin haben können, aber nicht für die Ausstellung in La Paz. Denn dann wären Restitutionsansprüche wirksam geworden. Das Ethnologische Museum in Berlin hat 350 Quipus, Fadenknoten, indigene Gedächtnisinstrumente, die Warenlieferungen, Landgrenzen oder Geschichten festhalten. Insgesamt gibt es 500 historische Quipus auf der Welt.

Andreas Siekmann: Uns war es aber trotzdem wichtig, die Bilder, die nicht kamen, zu zeigen. Wir haben sie dann in ihrer Originalgröße entweder als Zeichnung, als Film oder Kopie gezeigt und dann auch die Gründe offengelegt, warum die Bilder nicht kamen. Denn in diesen Gründen offenbart sich ja ein Teil der kolonialen Geschichte und Gegenwart. Um das im gesamten Konzept der Ausstellung deutlich zu machen, wollten wir die Bilder, die wir hatten, nicht normal an den Wänden hängen im Sinne von „So, jetzt haben wir den Kolonialismus überwunden!“ Für diese Bilder gibt es keine Wände, also haben wir sie auch nicht an Wänden gezeigt, um zu verdeutlichen, dass sie hier keinen Status besitzen.
Im Museum Prado in Madrid hieß es beispielsweise vor zehn Jahren auf unsere Anfrage, dass es solche Bilder in einer königliche Privatsammlung nicht geben würde, weil diese Sammlung der Geschichte der Malerei verpflichtet sei. Heute gibt es dort eine große Ausstellung über Kolonialgemälde im Spanischen Besitz. Das wäre vor zehn Jahren unmöglich gewesen, dass in einem Haus, wo Gemälde von Goya etc. gezeigt werden

Seitdem hat sich viel getan. Würdet ihr sagen, dass es Euch zuarbeitet und den Transfer Eurer Anliegen erleichtert? 

Alice Creischer: Im letzten Jahrzehnt hat sich viel getan. Das sieht man an den aktuellen Ausstellungen zur Revision der Brücke Künstler oder zu Gaugin in Berlin, in denen deren koloniale Verstrickung aufgedeckt wird. Allerdings geht das oft zu Lasten einer geschichtlich weiter gefassten Kontextualisierung. Stattdessen werden KünstlerInnen moralisch verurteilt, anstatt Kolonialismus als Teil eines politischen und ökonomischen Systems zu sehen, das bis heute andauert.

Andreas Siekmann: Institutionen wie das Humboldt Forum in Berlin machen Nationbranding mit einer fadenscheinigen Toleranz und kulturellen Offenheit, während sie Restitutionsfragen verschleppen oder sie sozusagen tötlich umarmen. Stück für Stück – wie bei der Zwangsarbeitsdebatte  – muss von außen Druck aufgebaut werden. Oft wird dieser Druck dann appropriert und ihre eigene Legitimation umgewandelt. Das Humboldt Forum ist eine sehr verlogene Institution.

Alice Creischer: Genau dieser Umgang mit postkolonialen Diskursen bringt uns vielleicht wieder zurück zur Einstiegsfrage: Warum ein Archiv von diesem Projekt zehn Jahre später. Diese Fragen der Bilderausleihe und -restitution sind gute Beispiele dafür.Das Humboldt Forum ist  ein sehr gutes Beispiel für White Washing, weil es so tut, als ob es tatsächlich seinen gigantischen Fundus an geraubten Artefakten aus der ganzen Welt hinterfragt. Es bleibt aber schon als architektonischer Komplex eine ungeheuerliche Herrschaftsgeste darstellt. Ein Preußisches Schloss wird an der Stelle wieder aufgebaut, wo zuvor der Palast der Republik, darin werden dann die Ethnologischen Sammlungen gezeigt.

Andreas Siekmann:  Im jetzigen Archiv wird in einem Heft thematisiert wir, dass die Familie Otto 2020 für die Kuppel des Humboldt Forums ein Kreuz gesponsort hat. Auf dem Reichsapfel des Kreuzes steht als Inschrift, dass die gesamte Welt, die Lebenden und die Toten, ihre Knie vor Jesus beugen müssen.

Alice Creischer: Wir haben mit dem Archiv in den vergangenen zehn Jahren unsere damaligen Themen und Fragen weiterverfolgt, um zu sehen, wie es sich heute mit Fragen der ursprünglichen Akkumulation, den Menschenrechten, der Kunst als Agentin einer westlichen Hegemonie verhält.

Andreas Siekmann: Mt den barocken Bildern sollten in den Kolonien Menschen unterworfen werden. Nun stellt sich für Künstler:innen in der Gegenwart angesichts der Biennalen in der Welt die Frage nach der eigenen Rolle – sind sie der Softfaktor von wirtschaftlichen Expansionen? Sind Biennalen dafür da, Wirtschaftsräume zu erschließen? 
Ein anderer Schwerpunkt des Archivs ist die Fortsetzung der Frage nach der ursprünglichen Akkumulation. Als wir 2008/2009 mit dem Projekt anfingen, war das zur Zeit der globalen Finanzkrise – . Unser Projekt thematisierte die erste globale Geldzirkulation mit der Silbermünze aus Potosí im 16. Jahrhundert , wir konnten aber die Finanzkrise nicht angemessen darin reflektieren, weil wir uns sozusagen im Auge des Sturms befanden. Wir konnten den vollen Umfang noch nicht erfassen. Deswegen haben wir die Finanzkrise und ihre Auswirkungen – Verschuldung, Bereicherung von wenigen, der Aufstieg des digitalen Kapitalismus – nun im Archiv thematisiert.

Bis zu welchen Grad erhofft man sich konkrete soziopolitische Veränderungen durch so ein Ausstellungsprojekt? 

Alice Creischer: Wir kommen aus der Antiglobalisierungsbewegung, die von einer Zuversicht geprägt war, Politik durch Proteste und internationale solidarische Netzwerke beeinflussen zu können. Diese Zuversicht ist nun zerstört. Spätestens seit dem der Kriegsausbruch in der Ukraine ist klar, dass Regierungspolitik nicht mehr angerufen werden kann, sich nicht beeinflussen lässt durch Proteste. Sie folgt nun einem nationalen Chauvinismus, der sich einstellt, weil die internationale Staatengemeinschaft unfähig ist, die Klimakatastrophe abzuwenden. Russland wird nicht der einzige Chauvinist dabei bleiben. Dies führt zu einer Sublimierung im kulturellen Bereich: man versucht die Wortwahl so politisch korrekt wie möglich zu gestalten, oder die diplomatische Etikette institutioneller Transparenz aufrechtzuerhalten – aber all das stößt an diese absolute Grenze der Nichtbeeinflussbarkeit von makropolitischen und ökonomischen Entscheidungen.

Was macht das mit der eigenen Motivationskurve? 

Alice Creischer: Das führt dazu, dass man es ungemein wichtig findet, eigene Netzwerke, eigene Verbindlichkeiten zu schaffen. Ich glaube, das Potosí-Projekt und auch sein Archiv stellen eine solche Verbindlichkeit eines diskursiven und künstlerischen Raums her in Argentinien und Bolivien, in Spanien, in London, in Moskau, in Petersburg, in Peking … – dieser Raum entstand nicht als selektiver kuratorischer Prozess, sondern war ein Schneeballeffekt. Eine Freund:in kennt den oder die und diese wiederum… dadurch hat sich über ein Kontinuum von zehn Jahren ein Netzwerk aus Freundschaften gebildet. Wir sehen in dieser Ausstellung und dem Archiv eine Art von künstlerischem Handeln, weil es Gemeinsamkeit herstellt.

Photo: Katja Illner


Andreas Siekmann:
Wir zeigen in der Ausstellung und in dem Archiv soziale Praxen, die jenseits der Anrufung an eine staatliche Politik agieren, und letztendlich ist das das Einzige, was uns zur Zeit übrig bleibt.Ein gutes Beispiel sind Mujeres Creando in Bolivien, mitbegründet von María Galindo. Seit zwanzig Jahren betreiben sie ein feministisches Kollektiv, das sich für die Rechte von Prostituierten, LGBTQ Personen und Marktfrauen einsetzt. Die Praxis von ihnen ist ermutigend, weil sie selbstorganisiert, autonom und militant agiert.
Ein anderes Beispiel hierfür ist die Arbeit „Beechtown/Blutbuchingen, Hambacher Forst: Modelle der Baumhäuser der Aktivist*innen“ von Stephan Mörsch in der Ausstellung – eine politische Praxis, die gegen Braunkohleabbau und die deutsche Energiepolitik protestiert.
Den Aktivisten ist bewusst, dass sie die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels nicht ändern können, aber sie senden in einem hochindustrialisierten Land wie Deutschland wichtige Signale. Zumal die Aktivisten vor Ort aus aller Welt kommen. Man ist hier viel weiter als die Politik vom Bewusstsein, da man weiß, dass man die Kämpfe international vereint führen muss.

Alice Creischer: In dem Archiv sind solche Praxen verbunden mit einem historischen Lot. DAs geht dann zum Beispiel von der Gegenwart im Hambacher Forst und dem dortigen Braunkohle-Extraktivismus zu dem berühmten Beispiel von Silber-Extraktivismus in Potosí – das sind die Wege, die das Projekt nachvollzieht.

Die Ausstellung fungiert unter dem Signet Projekt. Wie wichtig ist diese Begrifflichkeit, um „Potosi Prinzip“ zu fassen zu bekommen?

Alice Creischer: Seit den 90er Jahren nennen sich viele Ausstellungen “Projekte” Das war dem Mangel an Kontextualisierung geschuldet, der in der abgewirtschafteten männlichen Malerfürsten Kunstszene der 80er Jahre entstanden war. Es ist nicht mehr möglich, einfach nur Bilder in den Raum hängen, und zu sagen, das bin ich und ich und ich. Um eine künstlerische Praxis wirklich ernst zu nehmen, musste sie wieder mit sozialen und geschichtlichen Zusammenhängen zu tun haben.
Ein Projekt verlangt zunächst Langfristigkeit und erst einmal Ergebnisoffenheit Eine Biennale kann nie ein Projekt werden – das Geld muss immer in zwei Jahren ausgegeben werden, weshalb keine Biennale gut sein kann.
Zweitens baut ein Projekt sehr stark auf Kommunikation und Feedback zwischen den Teilnehmer:innen auf – und zwar explizit gegen die extreme Form der Hierarchisierung, die man noch im Kunstkontext der 80er Jahre kannte, wo zumeist männlichen Kuratoren die Künstler:innen auswählten. 
Wie immer ist diese Projektidee ambivalent, denn die Schlagwörter “Auflösung der Hiercharchien”, “Flexibilisierung der Arbeit”, , wo aus festen Arbeitsplätzen dann “Projekte” wurden, kennt man auch aus der neoliberalen Corporate Sprache der 90er, in der Arbeitsrechte und soziale Rechte schnell mit abgewickelt wurden. Der Begriff des Projekts hat also böse Geschwister.

Die beiden anderen Trigger-Begrifflichkeiten sind „Prinzip“ und „Archiv“. Vielleicht könnte ihr hier auch kurz erläutern wie es zu dieser Setzung kam und was das genau für den Ausstellungskontext meint. 

Alice Creischer: Das Prinzip hat eine zweifache sprachliche Bedeutung, im Spanischen heißt Principio auch der Anfang. Das gefiel uns. Potosí ist ja einer der Anfangsorte globaler Wirtschaft aufgrund der Silber-Extraktion, die in Europa die Dynamik der modernen kapitalistischen Wirtschaft ins Leben gerufen hat; die Potosí-Münze war eine der globalen ersten Währungen war.
Es erklärt zudem ein Prinzip von Ausbeutung und Extraktivismus, das sich die ganze Zeit wiederholt – wir suchen nach den Orten, wo sich das Potosí-Prinzip wiederholt.

Andreas Siekmann: So kam es auch zu den verschiedenen Städten im Potosí Projekt, die das Potosí von heute sind: Dubai beispielsweise. Dasselbe hat Potosí auch gemacht: man musste Investoren anlocken, um Seen anzulegen, Energieversorgung zu sichern, Arbeitsregime zu organisieren – das waren schon damals internationale Anleger.

Alice Creischer: Die Arbeitskraft wurde in Potosí über ein Zwangsarbeitersystem organisiert, ein System wie im feudalen Europa, wo die Leute zur Fron Arbeit verpflichtet wurden – nur dort noch exzessiver. Das reichte aber nicht, der Silberhunger war so groß, dass die Menschen zu schnell starben, also kam es zu einer Form der Spekulation auf Arbeitskräfte. Es wurden Wertscheine aufgelegt für Arbeitskräfte, die irgendwann kommen. Das hat uns natürlich erinnert an Futures, Derrivate, Wertanlagen
Wegen all dieser vielen Bezüge ist das Archiv sehr umfangreich Wir verfolgen viele Dinge aus dem Bedürfnis heraus, Geschichte umzuschreiben – und sie immer wieder in eine gegenwärtige soziale Praxis zu führen.

Photo: Katja Illner

Zentral für das „Potosi Prinzip – Archiv“ sind die bereits angeklungenen 36 künstlerisch gestalteten Hefte Es handelt sich dabei weniger um singuläre Positionen (bei aller Eigenständigkeit), sondern um ein Netzwerk künstlerischer Arbeiten, das als Dialog-Biotop zu den Themenfeldern Dekolonisierung, Extraktivismus, Inquisition und Kapitalismus angelegt ist.
Wie habe ich mir diesen Prozess der Kuration konkret vorzustellen: ist das ein linear additives Vorgehen gewesen oder eher 2 Schritte vorwärts, 1 Schritt zurück, 3 nach links und 2 nach rechts? Wieviel Sicherheit und Stabilität gibt es, wie brüchige sind die Erkenntnisse? 

Alice Creischer: Das traf sicherlich zu während den Überlegungen, überhaupt ein Archiv zu machen. Wir hatten ja diese vier grundlegenden Fragen, die strukturell sehr wichtig waren und zu den vier Kapiteln führten: zur Akkumulation, zu den Menschenrechten, zur Rolle der Kunst und zur Welt auf dem Kopf, was die Widerstandsformen betrifft. Vor zehn Jahren gab es viele Chroniken, die wir gar nicht bearbeiten konnten, wo aber noch sehr viel lag. Bei vielen Künstler:innen hatten wir das Gefühl, die Arbeit gar nicht angemessen erklären zu können, viele von ihnen haben ja ähnlich wie wir ebenfalls große Archive.
Die Frage war also eher: wieso hört man auf? Wann hat man das Gefühl, zu Ende erzählt hat?

Selbst jetzt hört es ja nicht gänzlich auf. Begleitend gibt es ein umfangreiches Rahmenprogramm aus Diskussionen und Lesegruppen (über/zu Gewalt) und Lesungen (aus dem Archiv) sowie Seminar-Angeboten zur Ausstellung, das Eure Arbeit fortsetzt. 

Alice Creischer: Das Archiv kann sich in diesem Block (deutet auf Katalog) manifestieren, aber es muss natürlich auch sonst weiterleben und in eine andere Praxis umsetzen.

Habt ihr das Gefühl, dass die andere Seite, das kapitalistische System ähnlich akribisch vorgeht wie ihr? 

Alice Creischer: Total. Wir haben beispielsweise ein Interview mit Phillip Mirowski geführt, Autor des Buchs „Never let a serious crisis go to waste“ – er war einer der ersten, der über sein Erstaunen geschrieben hat, dass die Banken und Finanzinstitutionen nach der Krise einfach wie zuvor weitermachten. Wir alle dachten doch 2008: Jetzt haben Sie es begriffen! Jetzt kommt die Tobin Steuer! Jetzt wird der Staat die Banken regulieren!

Andreas Siekmann: Er warnte früh vor Phänomenen wie Trump – und zwar weil die Linke die neoliberalen Netzwerke und den Prozess der kapitalistischen Digitalisierung nicht verstehen würde.

Alice Creischer:  Es gibt bestimmte Probleme wie die Finanzkrise oder die Klimakrise und sie werden von verschiedenen Seiten anders beantwortet. Von neoliberaler Seite kann man einen Fond aufsetzen und investieren in Aluminiumpartikel, die in die Luft geblasen werden, damit die Sonne nicht mehr so stark scheint. Von anderer Seite aus besetzt man einen kleinen Wald bei einem Braunkohleabbaugebiet.

Wie kann man sich dann aber erklären, dass die Politik nicht mehr mitkommt und beispielsweise die ökonomischen und ökologischen Risiken hinter Kryptowährungen nicht sieht. 

Alice Creischer: Seit den 70er Jahren gibt es eine Selbstentmachtung der Politik, gerade hinsichtlich der wirtschaftspolitischen Kompetenzen. Die Politik hat ihre Instrumente abgegeben.
Das Abgündige an der Bitcoin Währung ist ihr Wertdeckung. Sie besteht darin, , wieviel Rechnerleistung man zu ihrer Prägung braucht. Es bedarf einer ganzen Fabrikhalle an Rechnern, um eine Münze zu prägen. Das heißt, die Deckung der Währung besteht aus dem bloßen sinnlosen Verbrauch, dem Verbrennen von Energie, wo Energie das knappeste Gut ist.

Andreas Siekmann:  Eine Münze hat ungefähr die Energie vom Staate Dänemark.

Alice Creischer: Ähnlich wie ein Krieg, in dem Getreidesilos und Erdöllager bombadiert werden, Panzer und Schiffe in die Luft gejagdt werden, eine tägliche ungeheuerliche Anheizung des Klimas, so als ob die Wertbildung zusteuert auf die knappe Ressource, wo kann man in 40 Jahren noch leben.

Ein Stichwort ist hier sicherlich Resource. Ihr habt viel Zeit und Energie in Eure Recherchen investiert. Die Wirtschaft macht dies ebenfalls. Die Politik hat diese Zeit nicht, alle sind kaputt getaktet. 

Alice Creischer: Die Politik hat in der neoliberalen Wende seit Ende der 70er Jahren sämtliche Einrichtungen, die langfristig funktionieren könnten, privatisiert. Sie haben ihr Instrumentarium verkauft! Wenn du eine Politik hast, die wirtschaftspolitisch ohnmächtig ist, dann hast du keine Politik – sondern ein diplomatisches Corps.

Andreas Siekmann: Die Politik ist ein Repräsentant. Wenn etwas zur Energiewende gemacht werden soll, dann machen das Gutachter, Thinktanks und Ratingagenturen Das wird outgesourct. Die Gesetzesvorlagen werden von externen Firmen verfasst. Diesen nicht parlamentarisch gewählten Beraterfirmen und Thinktanks traut man mehr Kompetenz zu als jeder NGO. .

Was bedeutet all das gesagte für die Handlungsmöglichkeitsräume der Künstler:innen? Und die Kunst? Nach welchen Kriterien wählt ihr die Arbeiten für ein solches Projekt aus? 

Andreas Siekmann: Eine Kunst, die von sich sagt, dass man sie einfach auf sich wirken lassen kann und man dabei an nichts anderes denken muss, das ist für uns keine Freiheit – sondern birgt die Gefahr eine strukturelle Blindheit zu produzieren.

Alice Creischer: Es ist aber nicht so, dass unsere Freund:innen, deren Arbeiten hier hängen, den Ballast bewältigen müssen, alles zu lesen, bevor sie Kunst machen dürfen. Wir haben ja Freund:innen, die aus einer eigenen, sehr intensiven künstlerischen Praxis kommen. Wenn sie mit uns zusammenarbeiten, trifft ein Teil davon als Antwort auf einen Splitter des Archivs. Es kommen verschiedene intensive Beschäftigungen zusammen. Unsere Aufgabe ist es, alles zu sammeln und miteinander zu einem Sinnzusammenhang verbinden.

Photo: Katja Illner

Gibt es auch Künstler:innen, die überrascht sind, da sie die Arbeit gar nicht so intendiert hatten? 

Alice Creischer: Wenn wir Künstler:innen ansprechen, sind wir zumeist schon einen langen zusammen Weg gegangen. Manche Künstler:innen kannten das „Potosí-Projekt“ und haben – ohne das wir das wussten – Arbeiten gemacht, die darauf antworteten. So hat beispielsweise der bolivianische Dokumerntarfilmer Miguel Hilari auf einen Film von Harun Farocki geantwortet, den er vor 10 Jahren für unser Projekt produzierte.

Andreas Siekmann: Es passieren immer wieder Parallelen. Das Kreuz auf dem Humboldt Forum wurde zeitgleich zum Putsch in Bolivien platziert – beim Putsch kam eine klerikal-faschistische Regierung mit der Bibel in den Palast um den indigenen Geist der Regierung Evo Morales auszutreiben. Und in Berlin wird ein Schloss gebaut, um sozialistische Geschichte auszulöschen und preussischen Chauvinismus wieder einzuführen.

Alice Creischer: Wir haben generell viele Künstler:innen dabei, die sich im klassischen Sinne als Künstler:innen verstehen, aber auch solche, die in Kollektiven agieren, bis hin zum Aktivismus. Mittlerweile ist es ja so, dass alle im Kunstbereich ihre Branche und Sparte haben. Diese Diversifizierung erspart dann auch Grundsatzdiskussionen über das, was Kunst eigentlich ausmacht. Jede/r hat seine Nische. Wir haben das Glück, dass sowohl “klassische” KünstlerInnen in unserem Projekt mitmachen, als auch aktivistische Gruppierungen wie Mujeres Creando – wir haben somit die Chance einen anderen und weiteren Diskurs darüber zu führen, was das überhaupt ist, künstlerische Praxis.
Es ist wichtig, dass wir zu einer Form von künstlerischen Handeln kommen, das uns über die Diversifitzierung vereint. Auch um Kunst als eine Praxis zu retten.

Vielen Dank für das ausführliche Gespräch.

 

POTOSÍ-PRINZIP – ARCHIV
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Fr 08 04 – So 17 07 2022 

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