“Ich habe zwei Kinder und für sie müssen wir alles an diesem kapitalistischen System ändern”
Nicolas Haas ist Sänger und Songwriter, seine Haupteinkommensquelle sind Musikaufträge für Filme und Werbung. Sein Stück “Si un jour tu hèsites” ist Teil der auf dem Kölner Label Le Pop (das von Rolf Witteler und Oliver Fröschke betrieben wird) erschienenen Compilations “Le Pop 4” und “Le Pop Encore”. Nicolas Haas ist aktuell sehr aktiv bei der Geldbwestenbewegung.
Interview: Mathilde Hawkins
Übersetzung: Mathilde Hawkins und Rolf Witteler
Nicolas, was waren deine persönlichen Beweggründe bei der Gelbwestenbewegung teilzunehmen?
Nicolas Haas: “Berühmte Künstler, die sich normalerweise für soziale Zwecke engagieren, haben diesmal nicht mitgemacht. Dafür war ich von Anfang an dabei – seit dem 17. September. Ich hatte gleich kapiert, dass hier eine große Bewegung entsteht, dass etwas Wichtiges direkt vor unseren Augen passiert.
Ich bin von dieser Bewegung, die aus einem “genug ist genug”-Gefühl des kleinen Mannes heraus entstanden ist, sehr angetan. Als Musiker und Komponist ist mein persönlicher Status immer schlechter geworden, und auch wenn meine Lage weniger kritisch ist als bei anderen, so bin ich doch solidarisch mit allen, die sich hier zusammentun. Ich habe zwei Kinder und für sie müssen wir alles an diesem kapitalistischen System ändern.”
Was hat dich auf die Bewegung aufmerksam gemacht?
Diese super Idee, die gelben Westen zu benutzen, hat mich direkt begeistert. Jeder hat eine, sei es als Auto- oder als Fahrradfahrer. Und jetzt machen diese Westen Menschen sichtbar, die in den letzten 35 Jahren der neoliberalen Politik nicht mehr gesehen wurden. Leute, die normal nicht in den Medien auftauchen, sind auf einmal Thema. Deshalb ist die gelbe Weste ein Symbol geworden. Ich find’s großartig mich unter die Leute zu mischen.
Wie ist die allgemeine Stimmung bei den Demos? Glaubst du es gibt ein gemeinsames Ziel, oder sind es eher verschiedene Ziele, die sich hinter den Gelben Westen verbergen”?
Die allgemeine Stimmung bei den Demos ist ultrapazifistisch. 99 % der Leute kommen, um auszudrücken, dass sie mit der Politik nicht einverstanden sind. Leider werden wir jedes Mal von der Polizei provoziert. Sie benutzen Tränengas und kann ungestraft auf uns schießen.
Die Mainstream-Medien machen sich hier zu Komplizen, indem sie nicht über die Verletzten, die es schon seit zwei Monaten gibt, berichten. Erst in der letzten Woche hat sich daran etwas geändert. Man muss wissen, dass es schon 12 Tote und 200 Schwerverletzte gegeben hat. Vier Hände wurden abgetrennt, es gab 15 Augenverletzungen und Verletzungen an Gliedmaßen, darüber hinaus 1700 leichter Verletzte, 6500 Präventivfestnahmen wegen Versammlungsaufrufen und 200 Menschen sind letztendlich im Gefängnis gelandet. Es gibt auch auf unserer Seite Gewalt, aber das sind ganz isolierte Fälle und meistens entsteht das als Antwort auf die Polizeigewalt.
Bei den Demos ist immer eine freudige, aber entschlossene Stimmung und die gelben Westen ermöglichen es, dass jeder mit jedem reden kann. Es gibt viele Linke aber auch Rechte und ein paar davon auch extrem rechts. Aber mir fällt oft auf, wenn man mit denen diskutiert, dass das eigentlich keine Faschos sind, sondern nur Verärgerte (“fâchés mais pas fachos). Aus meiner Sicht ist deren Wut nur in die falsche Richtung gelenkt… aber wir reden und diskutieren darüber. Dafür bin ich da. Da ich schon immer ein politischer Aktivist war (heute vor allem bei “La France Insoumise”), finde ich es unheimlich wichtig mit den Menschen zu diskutieren. Ich versuche sie zu überzeugen, statt sie zu verabscheuen. Ich komme vom Lande und für mich ist Solidarität im Angesicht von Schwierigkeiten kein leeres Wort. Wir sprechen mit allen. Wir müssen diese Probleme zusammen lösen und Rassismus (Homophobie, Antisemitismus etc) gemeinsam ablehnen.
Das gemeinsame Ziel der Demonstranten ist der dringende Bedarf, das System des Europäischen Neoliberalismus zu ändern. Die Menschen wollen Solidarität – bessere Schulen, würdevolle Altersheime, einen besseren Pflegestandard, Hilfe für Behinderte, Obdachlosenheime, kurz bessere Versorgungsstandards für alle in ganz Frankreich! Es geht auch um Steuergerechtigkeit. Die Großverdiener sollen angemessen zahlen und man muss Steuerflucht verhindern. Dafür sollten die einfachen Leute entlastet werden, die mit geringen Einkommen, Kleinunternehmer und Handwerker. Man sollte die Vermögenssteuer wieder einführen, die von Macron abgeschafft worden ist, und keine Zehnmilliarden-fache Subvention von Großunternehmen zulassen. Die Menschen sollten würdevoll Leben können – wir brauchen ein Mindestgehalt von 1500,- EUR und 1200,- EUR Mindestrente. Pflege- und Lehrkräfte müssen besser bezahlt werden.
Außerdem wollen die Gelbwesten einen ökologischen Wandel. Das Ende von Atomkraft, eine ökologische Strategie und alternative Energie aus Windkraft, Photovoltaik und Gezeitenkraftwerken. Biologische Ernährung, kleine, dezentrale Einkaufsmöglichkeiten und die Wiederbelebung der Kleinstädte statt dieser riesigen Einkaufszentren. Durch die Kombination von Schienen- und Straßenverkehr sollte zudem der LKW-Verkehr zurückgedrängt werden.
Und es gibt eine sehr wichtige Forderung: der Rücktritt von Macron. Das wollen wir alle!
Hinter dieser Parole, die auf jeder Demo zu hören ist, steht der Wunsch, neu repräsentiert zu werden. Dass das Volk in seiner Vielfalt selbst Gesetze verabschiedet und nicht von ein paar Elite-Figuren, die von den Medien unterstützt werden, die wiederum den Großkapitalisten des Landes gehören.
Inwieweit engagierst du dich? Welche Gefühle spürst du bei den Demonstrationen auf der Straße?
Ich bin schon seit langen in verschiedenen Gruppierungen aktiv, bei der Menschenrechtsliga, bei der Schüler- und Elternvereinigung aber auch in politischen Gruppen wie der Kommunistischen Liga, der NPA Besancenot und France Insoumise. Aber ich bin vor allem ein Aktivist, der vor Ort arbeitet. Ich mag Tür-zu-Tür-Propaganda, Diskussionen anzufangen, Leute zu treffen und zuzuhören. Auf den Straßen bei den Demos fühle ich mich wohl, wie ein Fisch im Wasser. Die gelben Westen stehen für das Bild Frankreichs: vielfältig, komplex, gebildet, faszinierend, einfallsreich, solidarisch und vieles mehr. Ich verbringe viel Zeit damit, meine Freunde zu überreden mit mir auf die Straße zu kommen.
Wie stellst du dir die Zukunft der Gelben Westen vor? Gibt es Hoffnung auf eine Veränderung in Frankreich? Und wenn ja, welche?
Ich denke, dass diese Bewegung einzigartig ist, dass wir uns eigentlich an einem Wendepunkt in der Geschichte befinden, wirklich. Das ist der Anfang einer Revolution.
In Frankreich wird sich vieles verändern, eben weil da Menschen grade ein neues System erfinden. Mit Weitblick und Feingefühl wollen wir eine konstituierende Versammlung – die alle repräsentiert: die Arbeitslosen, die Arbeiter, Manager, alte Menschen, die Jugend usw. Es wird wahrscheinlich in nächster Zeit noch mehr Chaos geben, da die Leute hier sehr motiviert sind.
Wir haben nur Angst, dass es keine Neuwahlen gibt und dass Macron nicht abdankt. Oder, dass er es bewusst eskalieren lässt und mit einem militärischen Staatsstreich antwortet. Alle seine Maßnahmen in den letzten zwei Monaten haben nur zur Verschärfung der Situation geführt und die Polizei wird zur Gewalt gegen uns angehalten.
Ich drücke die Daumen, dass sich die Zahl der pazifistischen Demonstranten noch weiter erhöht. Angesichts dieser enormen Anzahl kann man beginnen, sich eine Zukunft ohne Macron vorzustellen.
Morgen werde ich wieder da sein und ich denke, wir werden viele sein.
Mehr Informationen zu Nicolas Haas: https://nicolashaas.bandcamp.com/