Bahnhofs-Mission-Ukraine Köln

Wo ist die Stadt?

Photo: Bahnhofs-Mission-Ukraine Köln


Am Kölner Hauptbahnhof kamen in der letzten Woche die ersten Gruppen von Geflüchteten aus der Ukraine an. Hilfe und Versorgung vor Ort wird fast ausschließlich von Hilfsorganisationen und Volunteers organisiert.

 

von Sebastian Ingenhoff

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An Weiberfastnacht fliegen Düsenjets über den Kölner Neumarkt. Auf dem kleinen Platz findet eine spontane Demo gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine statt. Überall sieht man Menschen mit ukrainischen Flaggen. Drumherum Kostümierte, die Karneval feiern. All das wirkt plötzlich surreal. Auch die Kölner Oberbürgermeisterin ist vor Ort. „In Köln sind Menschen, die vom Krieg vertrieben werden, jederzeit willkommen“, sagt Henriette Reker in die Kameras.Photo:

Ein paar Tage später. Ich gehe mit Dima spazieren. Er ist in Charkiw aufgewachsen, hat seine gesamte Jugend dort verbracht. Jetzt betreibt er eine Bar in der Luxemburger Straße. An normalen Tagen ist er einer der leidenschaftlichsten Musik- und Literaturnerds, die ich kenne. Er beginnt seine Sätze oft mit „Kennst du eigentlich …?“ und dann kommt der Name eines obskuren Dichters, von dem ich noch nie gehört habe. Dann bekommt man einen Vortrag über den Dichter und daraufhin trinken wir oft einen Vodka. Ich habe ihn noch nie so niedergeschlagen und aufgewühlt gesehen wie jetzt. Wir überlegen, was man tun kann. Geld sammeln und an verschiedene Hilfsorganisationen spenden. Auf Demos gehen.

Aber das reicht nicht. Wir laufen in die Südstadt zur deutsch-ukrainischen Hilfsorganisation Blau-Gelbes Kreuz e.V., dort werden Laster mit Hilfsgütern für die Ukraine beladen. Es sind so viele Helfende vor Ort, dass wir wieder weggeschickt werden. 
In Berlin kommen zu dem Zeitpunkt bereits täglich tausende von Menschen an. Die Geflüchteten werden von freiwilligen Helfer*innen betreut, die sich hauptsächlich über Telegram organisieren. Die Stadt Berlin ist zu dem Zeitpunkt offenbar kaum vor Ort. 

In Köln kommen noch verhältnismäßig wenige Geflüchtete an, aber es ist klar, dass sich das bald ändern wird. Die ersten größeren Gruppen sollen am Wochenende eintreffen.

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Samstagnachmittag, 05. März. Wir fahren gemeinsam mit ein paar Freunden zum Kölner Hauptbahnhof. Auch hier gibt es mittlerweile Whatsapp- und Telegram-Gruppen, in denen darüber informiert wird, wie viele Geflüchtete in den Zügen und Bussen unterwegs sind. Wir erfahren, dass um vier Uhr mit dem ICE aus Berlin zwei Frauen mit Kindern und sehr viel Gepäck ankommen werden, die weiter nach Brüssel wollen und eventuell Hilfe beim Umstieg benötigen. 
Im Bahnhofs-REWE kaufen wir Wasser, Snacks, Obst und Überraschungseier als kleines Willkommenspaket und gehen zum Gleis. Die kleine Gruppe erkennt man sofort, sie wirken erschöpft, wie man eben aussieht, wenn man seit fünf Tagen unterwegs ist. Dima und Eradj, der andere Russischsprachige aus unserer kleinen Gruppe, reden mit den Frauen. Der Rest versucht, den Inhalt der Überraschungseier mit den Kindern zusammenzubauen. Es ist gar nicht so einfach. Wir kriegen die kleinen Plastikteile nicht zu einem sinnvollen Ganzen verbunden. Eine der Frauen kommt schließlich zu Hilfe. „Ich bin Ingenieurin, ich kann sowas“, sagt sie auf Russisch, wie wir später erfahren. Und tatsächlich, es wird ein kleines Auto draus. Die Kinder sind für ein paar Minuten beschäftigt und auch wir sind überrascht, dass so etwas Simples (und doch Kompliziertes) wie das Überraschungsei Kindern selbst in diesen Horrorzeiten noch ein kleines bisschen Freude bereiten kann.

Am Breslauer Platz hinter dem Hauptbahnhof hat das Team vom Kölner Kältebus in Kooperation mit der Hilfsorganisation Blau-Gelbes Kreuz eine kleine Empfangsstation eingerichtet. Ein VW-Bus, an dem es warme Getränke, Essen und Snacks gibt. Wir lernen Feyza, Olja und Malte vom Orgateam und die anderen Helfer*innen kennen und werden gleich in die Whatsapp-Gruppe aufgenommen. Alles wird DIY-mäßig selbst organisiert. Von der Stadt Köln bisher keine Spur.

Wir bekommen improvisierte blaugelbe Schilder zum Hochhalten, die aus Papier mit Tesafilm zusammengeklebt wurden, und Namensschilder aus Gaffer-Tape, auf denen steht, welche Sprachen wir sprechen. Dann geht es wieder in Richtung Gleis. Speziell die Fernzüge aus Berlin, Dresden und Leipzig sind wichtig. Wir laufen an den Zügen entlang und halten die Schilder hoch, damit die Ankommenden uns als Helfer erkennen.

Unter ihnen sind auch Gruppen aus Charkiw. Dima will wissen, wie es in seiner Heimatstadt aussieht, wie es den Menschen dort geht. Ich verstehe weder Russisch noch Ukrainisch, aber es geht unter die Haut. Wie kann man Menschen Trost spenden, die weinend vor einem stehen, weil ihre Stadt zerbombt wird, deren dort verbliebene Angehörige eventuell gerade eine Waffe in der Hand halten oder mit Molotow-Cocktails gegen russische Panzer kämpfen?

An diesem Samstag sind wir bis tief in die Nacht am Hauptbahnhof. Um drei und vier kommen noch Busse mit jeweils dreißig oder vierzig Geflüchteten an, die versorgt werden, ehe die Geflüchteten in die Unterkünfte gefahren werden. 
Da es mittlerweile richtig kalt ist, wird beschlossen, die Menschen in der gegenüberliegenden Backwerk-Filiale zu betreuen. Es sind Szenen dabei, die man nie wieder vergessen wird. Vor mir ein vierzehn- oder fünfzehnjähriger Junge, der apathisch ins Nichts guckt. Ich versuche, zu kommunizieren, dass es drinnen warme Getränke und Essen gibt, doch er registriert gar nicht, dass jemand mit ihm redet. Ich frage mich, ob es irgendwo psychologische Betreuung gibt. Natürlich eine blöde Frage. Wir versorgen gerade Geflüchtete in einer Backwerk-Filiale.

Photo: Bahnhofs-Mission-Ukraine Köln

Nächster Tag. Man lernt neue Helfer*innen kennen. Es kommen immer mehr Freiwillige. Vor allem russisch- und ukrainischsprachige Menschen, die beim Dolmetschen helfen können, werden dringend benötigt. Am Gleis werden per Lautsprecher Durchsagen auf Ukrainisch gemacht, während wir unsere selbstgebastelten Schilder hochhalten. Meistens ist man in kleinen 2er- oder 3er-Gruppen unterwegs und hat möglichst eine Person dabei, die Russisch oder Ukrainisch spricht. Manche der Ankommenden fahren weiter nach Belgien oder Frankreich. Dafür brauchen sie ein sogenanntes Nullticket, das sie gegen Vorlage des ukrainischen Reisepasses im Reisecenter bekommen. Gerade spätabends fahren aber keine Fernzüge mehr, also braucht es oft eine Unterkunft für die Nacht. Die Sammelunterkunft in Wegberg an der holländischen Grenze, wo die meisten Geflüchteten nun hingebracht werden, ist da wenig hilfreich, weil man von dort aus schwer wieder wegkommt.

Bald weiß man auswendig, wann die Züge auf welchen Gleisen ankommen. Beziehungsweise verspätet ankommen, wie die meisten. Oder manchmal gar nicht ankommen. Der Begriff „Geisterzug“ etabliert sich im Team. Geisterzüge sind Züge, die bis zur geplanten Ankunftszeit auf der Anzeigetafel auftauchen, aber niemals einfahren werden. Auch nicht auf irgendeinem anderen Gleis. Auch am Infopoint der Bahn weiß man nichts über ihren Verbleib. Es ist wie verhext.

Man lernt: Geisterzüge sind gar nicht so selten.

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Die Stadt hat mittlerweile immerhin ein Zelt auf dem Breslauer Platz aufbauen lassen, wo die Geflüchteten versorgt werden können. Alle müssen zunächst einen Coronatest machen, dann werden sie mit warmen Speisen und Getränken versorgt und erhalten gegebenenfalls medizinische Hilfe. Zweimal am Tag werden die in Köln bleibenden in die Unterkünfte gebracht. Immerhin – Tests und Transfer werden nun von der Stadt übernommen. 
Der Rest der Arbeit inklusive Verpflegung wird weiterhin von den Hilfsorganisationen vor Ort und den zahlreichen Volunteers gestemmt. Es werden Spenden organisiert, Sachen und Essen eingekauft, vieles wird improvisiert. Fast immer sind die Helfenden länger vor Ort als geplant. Manchmal fehlt es an essenziellen Dingen wie Wasser oder Hygieneartikeln. Meistens geht es schneller, die Sachen selbst einzukaufen. Die Hilfsbereitschaft unter den Bürgerinnen und Bürgern ist groß. Viele Menschen kommen vorbei und spenden Geld oder Lebensmittel und bieten Hilfe oder private Unterkünfte an.

Ein Problem, das sich schnell herauskristallisiert: Die Wechselstuben nehmen keine ukrainische Währung an. Viele der Ankommenden haben kein Geld, zumindest nichts, was sie in Euro umtauschen können. 
Auch sonst lernt man viel.

Man lernt, dass Überraschungseier auch bei den anderen Kindern gut ankommen. Dima kauft jetzt jeden Tag eine kleine Palette und verteilt sie.

Man lernt, dass es Menschen gibt, denen man die Hilfe nicht aufdrängen muss. Ein elegant gekleideter junger Mann will weiter nach Brüssel und hat seinen Anschlusszug verpasst. Der Nächste fährt erst am nächsten Morgen. Er fragt, wie es sein kann, dass man eine Verbindung bei der Deutschen Bahn hat, bei der eine Umsteigzeit von gerade mal fünf Minuten eingeplant ist. Ich entgegne, dass uns Einheimischen das Problem nicht unbekannt ist. Er fragt, ob man denn nach Brüssel mit dem Taxi fahren kann. Ich erkläre, dass das wahrscheinlich mehrere hundert Euro kosten würde. Er sagt, bis zu zweihundert Euro würde er für die Fahrt zahlen. Okay, wir fragen einen Taxifahrer nach einem Festpreis, es kostet vierhundert Euro. Dem jungen Mann ist das zu teuer. Ich frage, ob er im Zelt warten möchte, aber er winkt ab. Ob ich ihm wenigstens einen Kaffee bringen könne? Er sagt, nur wenn es Espresso gebe. Ich sage, dass das unwahrscheinlich ist. Er verabschiedet sich höflich in den McDonalds. Ich denke, er wird klarkommen.

Man lernt, dass manche Horror-Geschichten wahr sind, über die man vorher nur gelesen hat. Dass Flucht nicht für alle Menschen gleich abläuft. Menschen aus Drittstaaten und BIPoCs wird die Ausreise aus dem Kriegsgebiet massiv erschwert, es gibt viele Berichte über Diskriminierungen und rassistische Grenzkontrollen. 

Von zwei jungen Schwarzen Frauen, die aus Kiew kommen, werden wir gefragt: „Ist das hier Hilfe für alle Menschen?“
Sie wollen tatsächlich wissen, ob weiße und nicht-weiße Menschen hier gleichbehandelt werden.

Man lernt, dass Hilfe auch Hölle bedeuten kann. In den sozialen Netzwerken wird vor Menschenhändlern gewarnt, vor Leuten, die Frauen Geld anbieten, damit sie mit zu ihnen nach Hause kommen. Auch in Köln ist offenbar ein creepy Typ unterwegs, der sich als Helfer ausgibt und auffällig oft junge Frauen anspricht. Er wird zwar verscheucht und die Polizei benachrichtigt. Aber natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass er es an einem anderen Bahnhof wieder versucht. Auch in den Social Media-Gruppen liest man immer wieder Berichte junger ukrainischer Frauen, die Nachrichten bekommen, „ob sie einen Boyfriend“ brauchen.
Wie niederträchtig können Menschen eigentlich sein?

Photo: Bahnhofs-Mission-Ukraine Köln

Aber es gibt auch Positives. Man spürt viel Empathie und Solidarität und sieht immer wieder kleine Erfolge. Die Zahl der Freiwilligen steigt konstant, innerhalb weniger Tage hat sich die Mitgliederschaft der Whatsapp-Orgagruppe verzehnfacht. Um Dima mache ich mir ein bisschen Sorgen. Er schläft kaum noch, ist oft von mittags bis zum nächsten Morgen vor Ort, jeden Tag, meistens ohne Pause.

Von der Stadt Köln kam nun immerhin die Ansage, dass viele Aufgaben künftig von ihr übernommen werden. Auf der Internetseite rühmt man sich bereits mit dem Hinweis: „Auf dem Breslauer Platz haben wir eine Anlaufstelle für sie errichtet.“
Danke, Stadt Köln für deine Anlaufstelle. Mehrere hochrangige Politiker*innen sollen schon vor Ort gewesen sein, um Fotos von sich machen zu lassen. Es ist wie ein schlechter Witz. 
In der Zwischenzeit habe ich Corona bekommen. Hatte man fast vergessen – den Mist gibt es ja auch noch. Das bedeutet mindestens sieben Tage Quarantäne. Immerhin habe ich Zeit, diesen Text zu schreiben. Meine Gedanken sind bei allen, die gerade fliehen und denjenigen, die ihnen helfen. 
Nicht nur in Köln, sondern überall.

Falls ihr die Bahnhofsmission Ukraine finanziell unterstützen möchtet, gibt es die Möglichkeit zu spenden. Weiterhin werden vor allem Geldspenden benötigt:

Kältebus Köln

Blau-Gelbes Kreuz

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