Record of the Week

Intenta: Experimental and Electronic Music from Switzerland 1981- 93

Diverse
“Intenta: Experimental and Electronic Music from Switzerland 1981- 93”
(Decalé Records / bongo joe records)

Wer ist Claudine Chirac? Falsch, keine Politikergattin, sondern Saxofonistin der Schweizer Band Grauzone, die dank dem NDW-Hit „Eisbär“ buchstäblich jedes Kind kennen dürfte. 1979 aus der Punkband Glueams hervorgegangen, existierten Grauzone in wechselnden Besetzungen bis in die späten Achtziger Jahre. Sänger Stephan Eicher ist heute ein erfolgreich ergrauter Chansonnier, Gründungsmitglied Marco Repetto arbeitet als Techno-DJ und Producer – und Claudine Chirac wurde unlängst von einer Berner Zeitung zum Phänomen Swiss Wave interviewt.

Der Begriff Swiss Wave entstand 1978, als BBC-Radiojockey John Peel ein paar Songs von Kleenex spielte – der revolutionären Zürcher Postpunk-Band, die sich später aus Markenschutzgründen in LiLiPut umbenennen musste. Kleenex/LiLiPut waren eine reine Frauenband, gingen 1979 mit den Raincoats auf Tour und wurden auch vom amerikanischen Rockjournalist Greil Marcus sehr verehrt: er schrieb begeisterte Essays über Kleenex, die dadurch in den USA bekannt wurden – was außer Yello wohl keiner anderen Schweizer Band gelang.

Zurück zu Claudine Chirac: Ihr Track „Etudes“ befindet sich auf der Compilation „Intenta“, die sich „Experimental and Electronic Music from Switzerland 1981 – 93“ und somit der Post-Wave-Zeit in der Schweiz widmet. Die Bandbreite der vorgestellten Künstler:innen ist riesig: Von abgedrehtem Jazz über Synthiepop bis zu Proto-House reichen die Stile, in Chiracs Fall sakral-kontemplativer Elektronik, vergleichbar mit Michaela Meliáns Musik. Punkiger, beziehungsweise „waviger“ präsentierte sich Claudine Chirac mit „Alle meine Entelein“, das nicht auf „Intenta“ vertreten ist – aber Compilations sind ja immer ein Anlass zum Crate- und/oder Video-diggen.

Zusammengestellt wurde „Intenta“ von den DJs und Labelbetreibern Matthias Orsett und Maxi Fischer (Decalé Records), die den Schwerpunkt auf Sounds legen – oder, wie sie es ausdrücken, der Sound wichtiger wird als der Song. Experimente auf neuen elektronischen Geräten fanden beileibe nicht nur in England, Deutschland oder Japan statt, sondern auch direkt hinterm Matterhorn, was man vielleicht nicht sofort auf dem Schirm hat.
Ein Beispiel für Orsetts/Fischers Ansinnen: „Computered Love“, B-Seite der 1984 veröffentlichten Single „Tokyo Boy“ von Carol Rich, die mit diesem Stück beim Eurovision Song Contest antreten wollte, aber bereits im Vorentscheid herausflog. Während „Tokyo Boy“ als zeittypischer Easy-Going-Synthiepop durchrutschte, ist „Computered Love“ mit seinem Mix aus repetitiven Elektro-und Chanson-Elementen plus Ambient wesentlich mutiger.  Auch sehr spannend und lustig: „Mammuth“ von Aborted at Line 6, dem Studioprojekt von Yello-Gründer Carlos Perón und Urs Steiger (Produzent, Fanzine-Herausgeber) – cooler Dancefloor-Killer von 1983 mit gesprochenen Vocals und Industrial-Geklöppel, oder der Trance-Disco-Track „Wintertime“ von D-Sire, die 1987 damit immerhin in Schweizer TV-Shows auftraten.  Weniger tanzbar, sondern wahrlich avantgardistisch-experimentell ist das gut achtminütige „Dreamings“ vom Kollektiv Elephant Chateau, deren Gesamtwerk in Kürze bei Tapete Records wiederveröffentlicht wird. Zu relativer Bekanntheit gelangte in den mittleren Achtzigern die Jazz-Funk-Fusion-Band Bells of Kyoto, deren Tracks sperrige Namen wie „Unterschwelliger Durchblick“ trugen – oder schlicht „Swiss Air“, das es auf „Intenta“ geschafft hat.

Ihr merkt es schon: zu jedem der siebzehn Stücke finden sich erstaunliche Stories und Querverbindungen, die Compilation ist eine echte Fundgrube, die zwar formal 1993 aufhört, aber bis (mindestens) heute nachwirkt.

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