Record of the Week

Colin Self „Siblings“ (RVNG Intl.)

Colin Self
„Siblings“
(RVNG Intl.)

„Pack your things, we leave tonight, in the shadow of the night“, singt der aus dem amerikanischen Bundesstaat Oregon stammende und in New York und Berlin lebende Komponist und Choreograph Colin Self auf „Survival“, der ersten Single-Auskopplung aus „Siblings“.
„Survival“ ist ein mitreißender Song über Ängste, aber auch den Mut, erst zur Flucht, dann zum Widerstand, den wir alle aus dem Austausch miteinander und über unsere Leben ziehen können, unterfüttert durch am Kitsch streichelnden Synth-Pop.

Die Musik von Colin Self ist zunächst vor allem einmal seine eindringliche Stimme, die in ihrer Ausdrucksvielfalt kaum zu fassen ist und von künstlich-unreal über weinerlich-verletztlich bis hin zu klagend-angreifend ein endloses und stimulierendes Gefühlsspektrum aufzumachen vermag. Wen diese Stimme kalt lässt, der hat seine Menschlichkeit schon sehr lange an die Schattenwesen verkauft.

Aber es ist eben nicht nur die Stimme, die das zweite Album von Colin Self (das Debut „Elation“ ist 2015 erschienen) so magisch anziehend macht, sondern die Vereinigung mit seinem die Unendlichkeit noch unendlicher machenden Klanguniversum. In einer Ära, wo alle die Zukunft vertonen wollen und sich die meisten dabei an Artificial Intelligence Ambitionen und futurischen Sounds gleichermaßen verheben und nur öde Mittelmäßigkeit produzieren, überzeugt Self und fordert uns dabei heraus. Wie sehr zeigt bereits das erste Stück des Albums, „Story“, auf dem es nur so apokalypthisch splittert und dröhnt, und doch fühlt man sich angezogen.

Die dramaturgische Raffinesse von Colin Self, die auch seine intensiven Auftritte auszeichnet, die mehr Theater als klassische Performance oder Konzert sind (zuletzt auch in Deutschland im Hebbel am Ufer Theater im Rahmen des CTM Festivals und mit Chor und Streicher-Ensemble), zeigt sich bereits an der Art, wie er uns durch das Album führt. Auf die digitale Brutalität von „Story“ folgt mit „Foresight“ ein kaum verortenbarer Song, irgendwo im Niemandsland aus choralen Gesängen und afrikanischen Traditionals angesiedelt – und einem Ende, das es in seiner Dramatik mit einem Hollywood-Blockbuster aufnehmen könnte, wenn es denn wollte.

“I used to live as an anomaly… no explanation biologically”, singt Colin Self etwas später in „Survival“ so wunderbar poetisch und doch die Realitäten klar benennend – im Zentrum von „Siblings“, dem finalen Akt von Self´s sechsteiliger Oper-Serie „Elation“, steht eine nicht-biologische Familie und ihre gemeinsame Reise über die in Mitleidenschaft gezogene Erde. Wir haben die Wahl, mit wem wir unsere kurze Zeit auf diesem Planeten verbringen, und zu was wir „ja“ und „nein“ sagen, will er uns vermitteln, nicht umsonst heißt das letzte Stück dieses fantastischen Albums, zu dem es noch so viel mehr zu sagen gäbe, „The Great Refusal“.

Die Besprechung ist in modifizierter Form in der Printausgabe der Kölner Stadtrevue erschienen. 

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